Amtspflichten und Gutachten

  • Es besteht die Pflicht, das eingeholte Gutachten zu überprüfen. Wenn Anhaltspunkte für offensichtliche Unrichtigkeiten, Lügen oder Missverständnisse vorliegen, darf eine Entscheidung auf Basis des Gutachtens nicht getroffen werden, ohne dass diese Unzulänglichkeiten zuvor aufgeklärt worden wären.

  • Warum kommen die wenigsten GutachterInnen zu dem behinderten Menschen ins Haus und verschaffen sich einen Eindruck zum Umfeld? Wir haben dies nur bei dem Richter des Betreuungsgerichts erlebt. Ein anderes Mal kam ein Team eines Leistungserbringers zu unserer Tochter und uns, um ihren Bedarf zu ermessen.
    Alle anderen GutachterInnen - und wir können die Anzahl kaum noch zählen! - liessen unsere Tochter und uns stets zu sich in die Praxis- oder Behördenräume kommen, die eine unnatürliche Umgebung für unsere Tochter darstellen.
    Selbst das Fördergutachten sollte damals (da war unsere Tochter 6 Jahre alt) in den Räumen der ihr und uns unbekannten Förderschule ohne elterliche Begleitung [sic!] stattfinden, eine Begutachtung über drei Tage! Wir waren damals die ersten Eltern, die sich weigerten, unsere kleine geistig behinderte Tochter "abzugeben". Das hätte wir bei unseren anderen Töchtern doch auch nicht gemacht.
    Behinderte Kinder sind aus unserer Sicht immer noch sozialpädagogische und medizinische "Objekte", deren Begutachtung ohne Respekt für das Umfeld (Menschen, Raum, Zeit) erfolgt.

  • Die Rehabilitationsträger sind an den Inhalt eines Gutachtens nicht gebunden. Das Gutachten dient ausschließlich der Sachverhaltsklärung und hat - wenn es denn überhaupt konkrete Empfehlungen zur Leistungsentscheidung enthält - rein empfehlenden Charakter, an den der Träger nicht gebunden ist. Anders als im Bereich der Pflegeversicherung, wo die Begutachtung möglichst in der Wohnung gesetzlich vorgeschrieben ist, enthält das SGB IX keine vergleichbare Regelung. Da die Gutachten von den Rehabilitationsträgern in Auftrag gegeben werden, können sie auch die Rahmenbedingungen bestimmen, unter denen das Gutachten erstellt werden soll. Wenn eine Begutachtung behinderungsbedingt außerhalb der Wohnung nicht möglich oder sinnvoll ist, sollten die Betroffenen oder Angehörigen im Vorfeld der Erteilung des Gutachtenauftrages den Träger bitten, im Gutachtenauftrag die Begutachtung in der Wohnung vorzusehen.

  • Ein Gutachten kann immer nur ein Teilaspekt in der Bedarfsermittlung sein, ich versuche immer selbst ein Bild vom behinderten Menschen zu bekommen. Wie sehr mir das fehlt, merke ich in der Coronazeit. Wir dürfen im Moment keine Termine außer Haus wahrnehmen und auch niemanden einladen. Alles muss nach Aktenlage oder per Telefon geregelt und dann entschieden werden. Bei Eltern die nicht gut deutsch sprechen ist das nicht einfach und vieles geht verloren. Im Zweifelsfall bewillige ich daher eher mehr und hoffe auf ein Treffen / Hospitation wenn die Corona Situation das wieder zulässt.
    Andere Sachbearbeiter*innen machen das halt anders.

  • Die Rehaträger sind immer(!) (zum Glück) an Artikel 1 GG., Artikel 2 GG, ... iVm. UN Konventionen gebunden. Sie dürfen z.B. die Gesundheit nicht gefährden. Wird im Gutachten also vor einem gesundheitlichem Risiko gewarnt, darf der Kostenträger dies nicht einfach so ignorieren ...


    Interessant finde ich, dass, laut Deutschen Ethikrat, Artikel 1 GG missachtet worden sein kann, wenn eine Zwangsmaßnahme zu einer (Re)Traumatisierung geführt hat.

  • Es gibt hier hinsichtlich der Gutachten stets ein zusätzliches Problem: Wir als AntragstellerInnen für unsere Tochter erhalten die Gutachten und Stellungnahmen nicht. Wenn wir nicht fragen, ob vielleicht ein Gutachten oder eine Stellungnahme des Gesundheitsamtes genutzt werden solle, so wissen wir davon nichts. Aber selbst wenn wir dann wissen, dass die Bewilligung sich auf ein oder zwei Gutachten des Gesundheitsamtes beziehen wird, so erhalten wir das Gutachten vom Gesundheitsamt nicht. Dort erklärt man uns, dass wir es nur von der Eingliederungshilfe erhalten könnten. Das kostet Zeit, die wir brauchen, um ggf. Einwände gegen das Gutachten geltend machen zu können.
    In einem für den Antrag auf das TPB wichtigen Gutachten stand Folgendes:"Sie benötigt eine engmaschige Anleitung, sowie Teilunterstützung bis volle Übernahme bei allen Dingen des täglichen Lebens. Dies kann nach meinem Ermessen durch eine stationäre Wohnform sichergestellt werden. Eine Sicherstellung der Pflege in einer ambulanten Wohnform (wie es sich die Eltern zurzeit wünschen) ist meines Erachtens möglich, erfordert aber einen großen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Ob die gewünscht ambulante Wohnform verhältnismäßig ist und unter den gesetzlichen Vorgaben möglich ist, ist meines Erachtens durch den Kostenträger zu prüfen." (Mai 2020)
    Übersetzung: Die Eltern haben sich die Rosinen herausgepickt, aber wir werden schon klären, wer hier bestimmt.

  • Hallo Frau Dr. Dartenne,


    ich kann die Inhalte des Gutachtens auch anders lesen. Der Gutachter hält eine ambulante Lösung für möglich, das ist schon mal eine wichtige Aussage. Er verweist zutreffend auf die Angemessenheit, also nach neuem Recht auf § 104 SGB IX, nach dem ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen ist, wenn - in ihrem Fall - die stationäre Einrichtung nicht zumutbar ist. Das sind doch eigentlich für ihre Tochter bzw. für Sie günstige Aussagen. Der Gutachter verweist m.E. auch zutreffend auf die richtige entscheidende Stelle, nämlich den Leistungs(Kosten-)träger. Denn ein Gutachter kann keine Entscheidung treffen, sondern nur empfehlend Stellung nehmen.

  • Lieber Herr Schmitt-Schäfer,
    ich stimme mit Ihnen zu dem folgenden Satz aus dem Gutachten nicht überein:
    "Ob die gewünscht ambulante Wohnform verhältnismäßig ist und unter den gesetzlichen Vorgaben möglich ist, ist meines Erachtens durch den Kostenträger zu prüfen."
    Unsere Tochter hat ein Wahlrecht. Es unterliegt nicht dem Kostenträger zu prüfen, ob sie ambulant wohnen kann.

  • Lieber Herr Schmitt-Schäfer,
    ich stimme mit Ihnen zu dem folgenden Satz aus dem Gutachten nicht überein:
    "Ob die gewünscht ambulante Wohnform verhältnismäßig ist und unter den gesetzlichen Vorgaben möglich ist, ist meines Erachtens durch den Kostenträger zu prüfen."
    Unsere Tochter hat ein Wahlrecht. Es unterliegt nicht dem Kostenträger zu prüfen, ob sie ambulant wohnen kann.

    Liebe Frau Dr. Dartenne,


    das verstehe ich. Ich bin inhaltlich ja ganz bei Ihnen. Das Thema ist aber, zu welchen Themen ein Gutachter eine Aussage machen kann. Und die rechtliche Bewertung der Zumutbarkeit einer vom Willen der Antrag stellenden Person abweichenden Leistungserbringung ist Sache der Behörde, nicht des Gutachters. Wäre es der Gutachterauftrag gewesen, die Zumutbarkeit nach § 104 SGB IX zu prüfen, hätte er sich genau dazu äußern müssen. Das war aber offenbar nicht der Fall.
    Die Leistungsträger hat die Aufgabe zu überprüfen, welche Leistungen notwendig und geeignet sind, um einen bestehenden Bedarf zu decken. Hierbei hat er das Gebot der Wirtschaftlichkeit zu beachten. Das Ergebnis dieser Prüfung stellt er mit seinem Bescheid fest, die gerichtlich überprüft werden kann und ggfls. auch sollte.
    Diese Grundsätze haben Verfassungsrang und gelten auch in der Eingliederungshilfe. Allerdings wurden in diesem Rechtskreis mit § 104 SGB IX aus guten und nachvollziehbaren Gründen sehr weitgehende Rechte der antragstellenden bzw. leistungsberechtigten Personen verbrieft. Diese gilt es nun zu nutzen. Das tun sie und das ist auch gut so.

  • Wichtig zu diesem Thema:


    SG Hamburg, Urteil vom 04. Dezember 2018 – S 28 SO 279/14 –, juris (Mehrkostenvorbehalt ist auf 0 reduziert, wenn es um Diskriminierung geht)
    Das ist ein Tipp vom Deutschen Institut für Menschenrechte.


    Hilfreich könnten auch die Ergebnisse des Deutschen Ethikrates "Hilfe durch Zwang".



    Wichtig ist, dass man sich möglichst gut vorbereitet und gute Argumente für seinen Wunsch darstellt. Ggf. auch Darstellen, dass eine "Zwangsunterbringung" negative Auswirkungen auf die Psyche haben kann.

  • Liebe/r Sonnenschein,
    ich danke für den guten Hinweis auf das Urteil.
    Mein Mann und ich recherchieren schon seit vielen Jahren einschlägige Urteile. Wir sind aber beide keine Juristen. Gleichwohl frage ich mich, warum sich eine Leistungsberechtigte zusammen mit ihren Eltern mit Urteilen wappnen muss.
    Es müsste doch die umgekehrte Logik sein: Die gewünschte Teilhabe wird erst einmal angenommen. Und davon abweichende Vorstellungen der Leistungsträger müssten legitimiert werden.
    Aus meiner Sicht ist es aber immer noch so, dass die Antragstellerin/der Antragsteller für ihre/seine Wünsche kämpfen (deshalb nutze ich auch das Wort "wappnen") muss. Eigentlich ist es ein Kampf gegen den latenten Vorwurf, man wolle Steuergelder missbrauchen, wenn man z.B. von der traditioneller Logik "Behinderte Menschen gehören in Einrichtungen [Exklusion]" abweichen möchte.
    "Zwangsunterbringung" wird bestimmt als Wort nicht mehr gebraucht (angesichts unserer Geschichte auch überhaupt nicht opportun), aber der Verwaltungswind, der uns bei dem Wunsch, unsere schwer geistig behinderte Tochter ambulant pflegen und betreuen zu lassen, entgegenweht, bringt dieses Wort mit.