Kollidiert die "Teilkasko"-Pflegeversicherung mit dem Teilhabeanspruch behinderter Menschen?

  • Bei der Eingliederungshilfe (EGH) sind sich die Verbände des Deutschen Behindertenrats einig: Die EGH muss raus aus dem Fürsorgerecht (SGB XII) und zu vorrangigem Leistungsrecht werden, damit Betroffene nicht länger gezwungen sind, durch vorrangigen Einsatz eigenen Einkommens und Vermögens zu verarmen, bevor ein öffentlicher Kostenträger für EGH-Leistungen eintritt. (Das triff etwa erwerbstätige schwerbehinderte Menschen, die auf persönliche Assistenz zur Alltagsbewältigung angewiesen sind; sie werden durch der Früchte ihrer Arbeit "enteignet" und damit gegenüber vergleicharen nicht behinderten Beschäftigten drastisch benachteiligt.)
    Ganz ähnlich bei der Hilfe zur Pflege (HzP) nach dem SGB XII. Auch hier ist zur Deckung von Pflegekosten vorrangig eigenes Einkommen und Vermögen einzusetzen (ggf. auch das unterhaltspflichtiger Angehöriger). Vor allem bei Heimunterbringung fallen monatlich hohe Kosten an, die von den Zuschüssen der "Teilkasko"-Pflegeversicherung nur sehr teilweise gedeckt werden, so dass bei "NormalrentnerInnen" der Einkommens- und Vermögensverzehr in der Regel rasch in pflegebedingte Armut und Sozialhilfeabhängigkeit führt. Auch hier werden Menschen um die Früchte ihrer Lebensleistung gebracht, nur weil sie durch Pflegebedürftigkeit behindert sind. (Pflegebedürftigkeit ist eine besonders schwere Form der Teilhabebeeintzrächtigung.)

    • Liegt hier nicht eine offenkundige Benachteiligung behinderter gegenüber nicht behinderten Menschen vor?
    • Können zur Deckung des Teilhabebedarfs erforderliche Kosten den Betroffenen selbst angelastet werden, statt sie durch die Gemeinschaft solidarisch zu tragen?
    • Muss also nicht auch die HzP aus dem Fürsorgerecht herausgelöst werden, indem die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung nach dem Beispiel der Krankenversicherung fortentwickelt wird, wie die Gewerkschaft ver.di es bereits fordert?

    Auch die Kommunen, die mit klammen Haushalten allenthalben über die hohen und demografisch bedingt steigenden Kosten der HzP klagen, würde es sicher freuen, wenn das Gründungsversprechen der Pflegeversicherung, pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit zu überwinden, auf diese Weise eingelöst würde.

  • Meines Erachtens sind hier verschiedene komplexe Fragen angesprochen, die sich nicht einfach mit ja oder nein beantworten lassen.
    Dass die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgerecht herausgelöst gehört, ist wohl inzwischen unter vielen Akteuren unstreitig. Die Leistungen sollen Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen, auch im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen. Geht man davon aus, dass pflegebedürftige Menschen auch Menschen mit Behinderungen sind (umgekehrt ist das ja nicht automatisch so), kann man durchaus darüber diskutieren, ob pflegebedürftige Menschen auch Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten sollen. Das ist sicher eine Frage der Definition der Aufgabe der Eingliederungshilfe.
    Die Pflegeversicherung deckt aber eine spezielle Bedarfslage - den Pflegebedarf - ab. Diese Bedarfslage ist aber nicht durch bestimmte, klar definierte medizinische Aspekte gekennzeichnet, sondern enthält verschiedene persönliche, soziale u.a. Faktoren. Anders als in der Krankenversicherung, wo z.B. eine Blinddarmentzündung oder ein Beinbruch bestimmte medizinische Behandlungen erfordern, die finanziell definierbar sind, ist das im Fall der Pflegebedürftigkeit nicht immer so einfach, weil die Pflegestufen, an die die Leistungen der Pflegeversicherung anknüpfen, ein Konstrukt des Gesetzgebers sind, mit denen er Kosten berechenbar machen wollte. Selbst innerhalb der gleichen Pflegestufe können die Bedarfe, die finanziert werden sollen, stark voneinander abweichen, je nachdem welche Ressourcen der Pflegebedürftige noch aktivieren kann, in welchem sozialen Umfeld er eingebettet ist, wie Wohnung und Sozialraum organisiert sind usw. Bereits aus diesen Gründen lässt sich eine Vollversicherung schwer vorstellen; man könnte dann auf das Konzept der Pflegestufen ganz verzichten, sondern müsste bestimmte Selbstständigkeitsdefizite mit bestimmten (Sach)Leistungen hinterlegen. Hinzu kommt, dass konsequenterweise dann das Pflegegeld entfallen und ein reines Sachleistungsprinzip eingeführt werden müsste; das kommt den Leistungsanbietern sicher entgegen, würde aber die ehrenamtliche Pflege weitgehend überflüssig machen und die Flexibilität und Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Menschen bei der Festlegung ihres Pflegesettings einschränken.
    Im stationären Bereich ist eine Pflegevollversicherung eher vorstellbar, weil die Kosten für die pflegebedingten Aufwendungen durch die Pflegesätze festgelegt sind (Hotelkosten und Investitionskosten, die in der stationären Pflege auch anfallen, würden durch eine Pflegevollversicherung nicht abgedeckt) und insofern gleich sind. Durch das Vorhaben des Gesetzgebers im PSG II, eine einheitliche Eigenbeteiligung in der vollstationären Pflege festzulegen, wird das noch deutlicher - diese Eigenbeteiligung ist dann durch eine bestimmte Summe festgelegt. Diese Voraussetzungen gibt es in der häuslichen Pflege nicht. Hier würden möglicherweise sogar Fehlanreize gesetzt werden, da Leistungen, die bisher ehrenamtlich erbracht werden, dann zu Lasten der Pflege(voll)versicherung gehen würden.
    Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung/Hilfe zur Pflege decken unterschiedliche Bedarfslagen ab und können deshalb aus meiner Sicht auch unterschiedlich beurteilt werden. Während der Eingliederungshilfe kein Versicherungssystem "vorgeschaltet" ist und ihre Aufgabe einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen dient - hier ist durch die Einbindung in das Fürsorgesystem eine Benachteiligung dieser Menschen zweifellos vorhanden. Denn ein Mensch mit Behinderung, der Leistungen der Eingliederungshilfe erhält, hat sein Einkommen nie "ganz für sich", weil er immer zu den Kosten der Leistungen, die ihm eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen, herangezogen wird. Für die Bedarfslage "Pflegebedürftigkeit" gibt es eine Versicherung, die zunächst bedürftigkeitsunabhängig in Anspruch genommen werden kann, entsprechend den Bedarfen und Bedürfnissen der Betroffenen, die ganz unterschiedlich sein können und nicht bei jeder Pflegestufe (oder demnächst jedem Pflegegrad) identisch und damit konkret bezifferbar sind. Die Hilfe zur Pflege hat nur Auffangfunktion, dass diese Leistung nur Menschen, die nach dem SGB XII bedürftig sind, erhalten, ist insofern zu rechtfertigen.

  • Mir geht es vorliegend nicht um (lösbare und im Rahmen des SGB XII (HzP) auch - wie (un)befriedigend auch immer - gelöste) Probleme der individuellen Leistungsbemessung, sondern um die Grundsatzfrage. Sowohl für Leistungen der Eingliederungshilfe als auch der Pflege gilt bislang der Grundsatz privater Kostentragung. Bei der Pflege werden die Betroffenen durch Zuschüsse der Pflegeversicherung darin unterstützt (ein Vorteil gegenüber der Eingliederungshilfe). Die häufig hohen "ungedeckten" Kosten lassen Betroffene vielfach dennoch in Fürsorgebedürftigkeit abrutschen - nur weil sie wegen ihrer Pflegebedürftigkeit eine besonders schwere Form von Behinderung (Teilhabebeeinträchtigung) aufweisen. Hier wie dort empfinde ich es als ungerecht, den Betroffenen selbst die Folgekosten ihrer Beeinträchtigung anzulasten, statt sie solidarisch zu tragen.


    Man bedenke: "Pflege ist Reha" (Pflege-Enquête des NRW-Landtags 2005) - oder sollte es zumindest sein. Und pflegerische Hilfe zur Bewältigung elementarer Alltagsverrichtungen ist für die Betroffenen die basale Voraussetzung, um an andere Arten sozialer (gemeinschaftlicher, gesellschaftlicher) Teilhabe überhaupt denken zu können.

  • Zunächst muss man feststellen , dass auch die Pflegeversicherung nach dem Solidaritätsprinzip gestaltet wurde. Es besteht Versicherungspflicht und alle leisten einen Beitrag, die Versicherung leistet im definierten Bedarfsfall. Die Frage , ob es gerecht ist , die Pflegeversicherung nur als Teilkaskoversicherung zu gestalten, kann man glaube ich nicht so einfach beantworten ,da es sich hier um eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Frage handelt. Letztendlich muss die Gesellschaft , und damit die Politik , sich die Frage stellen ob sie im Rahmen des Sozialstaates wie auch in der gesetzlichen Krankenversicherung hier eine Vollversorgung einrichten will , mit den entsprechenden Auswirkungen für die Beitragszahler, oder ob sie weiterhin dem einzelnen Bürger eine Mitverantwortung für die Absicherung des letzten Lebensabschnittes zumutet / überlässt / zuspricht. Das die Standpunkte hier sehr unterschiedlich sein können, zeigen ja zum Beispiel, die aus meiner europäischen Sicht sicherlich nicht nachvollziehbaren Debatten in Amerika über die Eingriffe in die Bürgerrechte bei Einführung einer Zwangskrankenversicherung. Die Debatte über die Ausgestaltung der Pflegeversicherung ist sicherlich nicht beendet und sollte aus vorher genannten Gründen auch fortgeführt werden. An dieser Stelle sei auch zur Vollständigkeit darauf hingewiesen , dass die Pflegeversicherung ihre Leistungen unabhängig von den tatsächlichen Einkommensverhältnissen der Versicherten erbringt.