Wer hat einen Anspruch auf eine Stufenweise Wiedereingliederung?

    • Offizieller Beitrag

    Der individuelle Rechtsanspruch zur Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung war bereits in unserer Online-Diskussion 2014 Thema: https://fma.reha-recht.de/inde…f-die-Stufenweise-Wieder/
    Dabei wurden die arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Ansprüche differenziert sowie die Mitwirkungspflicht der Arbeitgeber angesprochen. Es wurde damals angeregt, dass sich die Rechtsprechung dahingehend entwickeln könnte, dass nicht nur anerkannt schwerbehinderte Arbeitnehmer einen Anspruch auf Durchführung einer Stufenweisen Wiedereingliederung (StW) bei Ihren Arbeitgerbern haben. Gibt es hierzu neuere Entscheidungen?


    Dies ist eine Impulsfrage des Teams

  • Nach Ansicht des BAG, 16.05.2019, 8 AZR 530/17, Rn. 44 am Ende, sei wie folgt zu differenzieren:


    „Soweit es sich um schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte behinderte Menschen handelt, kann sich für diese ein Anspruch auf Beschäftigung im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben nur aus § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. ergeben. Demgegenüber haben nicht schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte behinderte Menschen - wie unter Rn. 21 ausgeführt - grundsätzlich keinen Anspruch auf Mitwirkung des Arbeitgebers an einer stufenweisen Wiedereingliederung; vielmehr ist das Wiedereingliederungsverhältnis in Fällen außerhalb von § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. ein Rechtsverhältnis eigener Art, das zu seiner Entstehung einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedarf.“

  • Die Frage nach dem Anspruch auf Durchführung einer StW ist nicht einfach zu beantworten.


    Zunächst ist klar, dass die Organisation des Wiedereingliederungsverfahrens im Betrieb nur vom Arbeitgeber geleistet werden kann, es somit ohne seine Mitwirkung nicht geht.


    Fraglich ist, ob Arbeitgeber rechtlich zur Mitwirkung verpflichtet sind.


    Ursprünglich wurde eine Verpflichtung von der Rechtsprechung generell abgelehnt (so noch BAG, 28.07.1999, 4 AZR 192/98, BAGE 92, 140). Später hat das BAG jedenfalls für schwerbehinderte Beschäftigte die Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers aus § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX a.F., heute § 164 SGB IX abgeleitet (BAG, 13.06.2006, 9 AZR 229/05, NZA 2007, 91 ff.).


    In der Literatur haben sich in letzter Zeit die Stimmen gemehrt, auch zugunsten von einfach behinderten Beschäftigten oder wegen Langzeiterkrankung von Behinderung bedrohten Beschäftigten diese Mitwirkungspflicht, gestützt auf § 241 Abs. 2 BGB, zu bejahen (vgl. z.B. Gagel, Beitrag B2-2010 unter http://www.reha-recht.de; ders., jurisPR-ArbR 6/2007 Anm. 1; ders. NZA 2001, 988, 991 f.; ebenso Deinert, ZSR Sonderheft 2005, 104, 124; Deinert/Neumann-Deinert, § 16 Rn. 37; Gagel/Schian, br 2006, 53, 55).


    Inzwischen gibt es zwei jüngere Entscheidungen des BAG, eine des 8. Senats, aus der „Wolfgang“ oben die wichtige Stelle zitiert hat, und eine des 5. Senats vom 6.12.2017 (Aktenzeichen: 5 AZR 815/16, zu finden in NZA 2018, 439). In beiden Entscheidungen haben sich beide Senate dahin positioniert, dass sie außerhalb des Schwerbehindertenrechts, also außerhalb des heutigen § 164 SGB IX, eine Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers nicht sehen.


    Mit diesen deutlichen Positionen ist natürlich fraglich, wie Instanzgerichte oder andere Senate des BAG künftig entscheiden.


    Aus meiner Sicht muss die Antwort mit Rücksicht auf das Europäische Gleichbehandlungsrecht gesucht werden. Dazu besagen die beiden neueren BAG-Urteile allerdings nicht. Immerhin wird im europäischen Gleichbehandlungsrecht, das für die deutschen Arbeitsgerichte verbindlich ist, nicht zwischen einer einfachen und einer Schwerbehinderung differenziert. Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen betont, dass Arbeitgeber angemessene Vorkehrungen unabhängig von einer Schwere der Beeinträchtigung treffen müssen (vgl. nur EuGH, Urt. v. 11.04.2013 - C-335/11 u.a. Rn. 74 „Ring, Skouboe Werge“ m. Anm. von Roetteken, jurisPR-ArbR 33/2013 Anm. 1).


    Auch wenn es im deutschen Arbeitsrecht keinen ausdrücklichen Rechtssatz gibt, wonach Arbeitgeber zugunsten aller behinderter und von Behinderung bedrohter Beschäftigter angemessene Vorkehrungen treffen müssen, ist heute, auch vom BAG anerkannt, dass diese europäisch normierte Pflicht auch aus dem nationalen Recht ablesbar ist und zwar aus § 241 Abs. 2 BGB (vgl. BAG, 19.12.2013, 8 AZR 190/12). Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat ein Rechtsgutachten von Prof. Eichenhofer veröffentlich, welches die Reichweite dieser Pflicht anschaulich beschreibt (https://www.antidiskriminierun…ne_Vorkehrungen_node.html).


    Übertragen auf die Pflicht zur Mitwirkung an einer StW heißt das, dass sich der Arbeitgeber auch gegenüber einfach behinderten Beschäftigten oder Langzeiterkrankten dem Anliegen auf StW nicht ohne Grund verwehren kann; vielmehr muss er Einwände geltend machen, aus welchen konkreten Gründen für ihn die Organisation der StW unzumutbar bzw. unangemessen ist und der Anspruch daher aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB nicht besteht.

  • Auch wenn es im deutschen Arbeitsrecht keinen ausdrücklichen Rechtssatz gibt, wonach Arbeitgeber zugunsten aller behinderter und von Behinderung bedrohter Beschäftigter angemessene Vorkehrungen treffen müssen ...

    Siehe zum Thema auch Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, »Angemessene Vor­kehrungen« in das Allgemeine Gleich­be­hand­lungs­gesetz!, Behindertenrecht br 05/2019, Seite 117 bis 121.

  • In der Diskussion um einen Rechtsanspruch auf StW auch für Menschen mit "einfacher" Behinderung, ist die Entscheidung des LSG München, 13. Senat, vom 25.4.2018, Az.: L 13 R 64/15, sehr hilfreich. Zwar ging es um einen sozialrechtlichen Streit. Allerdings kann die folgende Passage auch in der arbeitsrechtlichen Argumentation und gegen die neueren Entscheidungen des BAG (siehe oben) genutzt werden:


    (zitiert aus Reha-dat: https://www.talentplus.de/in-b…ngliederung&artrec=urteil)




    "c) Ein Anspruch der Klägerin auf Wiedereingliederung bei zeitlich limitierter Arbeitstätigkeit ergibt sich auch aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK. Es ist (mittlerweile) grundsätzlich anerkannt, dass das Diskriminierungsverbot von Art. 5 Abs. 2 UN-BRK unmittelbar anwendbar ist (Urteile des BSG vom 06.03.2012 - B 1 KR 10/11 und vom 15.10.2014 - B 12 KR 17/12 m.w.N.; Aichele, DRiZ 10/2016, 342 (362)). Hierzu hat das BSG im Urteil vom BSG 06.03.2012, a.a.O. Folgendes festgestellt:


    'Nach dieser Regelung verbieten die Vertragsstaaten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.'


    Zu den Menschen mit Behinderungen zählen nach Art. 1 Abs. 2 UN-BRK Menschen, die - wie die Klägerin - langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Nach Art. 2 UN-BRK bedeutet 'Diskriminierung aufgrund von Behinderung' jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Im Sinne des Übereinkommens bedeuten gemäß Art. 2 UN-BRK 'angemessene Vorkehrungen' notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten zu den im Einzelnen in Art. 4 Abs. 1 S. 2 UN-BRK genannten Maßnahmen.



    Ein Ausschluss von Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen aus dem Anwendungsbereich der stufenweisen Wiedereingliederung, die aus gesundheitlichen Gründen prognostisch nicht mehr eine Vollzeittätigkeit ausüben können, jedoch noch über ein Teilleistungsvermögen verfügen, stellt danach einen klaren Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK dar. Schließlich besteht kein sachlicher Grund, Personen die von Anfang an in einem Teilzeitarbeitsverhältnis gestanden haben, eine Wiedereingliederung zu gewähren und Personen die ursprünglich in einem Vollzeitarbeitsverhältnis standen, jedoch aus gesundheitlichen Gründen prognostisch nur noch über ein Teilzeitarbeitsverhältnis verfügen, eine Wiedereingliederung zu verweigern. Eine derartige Verwaltungspraxis der Beklagten verstößt auch gegen Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG)."