"Seelische Behinderung" als diskriminierende ableístische Begriffskonstruktion

  • Die im SGB IX auftauchende Klassifikation der "seelischen" Behinderung kann von verschiedenen von psychischen Beeinträchtigungen und psychiatrisch neurologisch diagnostizierbaren Erkrankungen Betroffenen, sowie Menschen mit Neurodiversities als hochgradig able´istisch sprich diskriminierend aufgefasst werden. Hintergrund: Studierende, so auch ich, hatten in einer selbstorganisierten Disability Studies Lecture Group der Uni Frankfurt verschiedene wissenschaftliche Texte und auch Teile des SGB IX (vor der Neufassung) gelesen. Dort ist aktuell zu lesen:



    (" § 2 SGB IX Begriffsbestimmungen
    (1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.")





    Gerade die Lektüre des Buches des Philosophen
    Hans-Uwe Rösner
    "Behindert sein – behindert werden
    Texte zu einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung behinderter Menschen"
    hatte uns dazu geführt,
    die Begriffskonstruktion einer Seele, die "behindert" sein soll, in Frage zustellen.. Nicht nur, dass der Begriff einer Seelischen Behinderung mitnichten medizinisch fassbar wäre, so gibt es Psychiater Psychotherapeuten ; Neurologen Gehirnchirurgen, aber mitnichten "Seelenärzte" - sondern wir hatten das dereinst für verschieden Sprachräume Europas überprüft. "Seele" ist einen Begrifflichkeit, eine Entität, die aus philosophischer und theologischer Sicht gefasst und äusserst widersprüchlich beschrieben wird. Ein Begriff, der möglicherweise in einen umfassenden diskursiven Rahmen definiert werden kann, nicht aber in einem sozial medizinischer und rechtsphilosophischem Kontext, also der Grundlage des SGB 9 austauschen sollte. . Die als diskriminierend erfahrende Komponente würde sich so fassen, dass Seele im allgemeinen Sprachgebrauch (z.b. "Eine Seele von einem Menschen sein ", "eine gute Seele", "beseelt") eine durchaus positive Konnotation hat, diese wird Menschen mit psychiatrisch diagnostizerbarem Leiden Erkrankungen somit abgesprochen.

  • Hallo,
    danke für den Literaturtipp, das werde ich mir anschauen.


    Da Sie sich mit § 2 SGB IX befasst haben, wissen Sie, dass dort der Begriff "seelische Behinderung" nicht auftaucht. Wohl ist die Rede von seelischen ... Beeinträchtigungen, was wiederum damit zu tun hat, dass sich die Rehabilitation mit Krankheitsfolgen beschäftigt. Und seelische Störungen scheint es zu geben, jedenfalls gibt es in der ICD, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten ein Kapitel 5: Psychische und Verhaltensstörung. Die Psyche nun ist altgriechisch und heißt ins Deutsche übersetzt: Seele. Psychiater:innen sind also Seelenärzt:innen


    Heißt also: zum Personenkreis nach SGB IX gehört, wer eine (diagnostizierte) psychische Störung "hat" (lebt, erduldet, ...) und als Ergebnis der Wechselwirkung der Umwelt mit dieser Störung am gesellschaftlichen Leben nicht teilhaben kann. Der Fokus des SGB IX liegt also nicht auf der seelischen Störung, sondern auf der Umwelt. Das halte ich für einen ziemlichen Fortschritt, ganz in dem von Ihnen intendierten Sinn (so ich ihn richtig verstanden habe).

  • Danke für Ihre Antwort-/Der explizite Bezug auf den Begriff der Seelischen Behinderung ist der Tatsache geschuldet, dass der Zeitpunkt unserer Lektüre Gruppe vor der Neufassung des SGB IX lag, der Begriff seelische Beeinträchtigung doch recht nah an dem der Behinderung ist (für beeinträchtigte /behinderte Studierende zieht sic durch die Diskurslandschaft der Unterstützungsangebote der Hochschulen und des Studentenwerkes.) Auch der Begriff der "seelischen Behinderung" wird bei Leistungsträgern der SGB IX Leistungen, deren Seiten und "ICR o.ä. Fragen" Handreichungen wir auf Bezug auf Inklusion/ Hochschule überprüften, erstaunlicherweise weiterhin als Begriff tradiert.
    hier eine Beispiel aus Hessen:
    "...

    • RS SGB IX 201 Nr. 4/2020Abrechnung der pauschalierten Betreuungs- und Fahrtkosten für Besucher einer Tagesstätte für seelisch behinderte Menschen, die erstmals nach Erreichen der individuellen Regelaltersgrenze nach § 235 Abs. 2 SGB VI Eingliederungshilfeleistungen beziehen...
      " https://www.lwv-hessen.de/lebe…ngliederungshilfe-sgb-ix/

    Oder in Beratungs angebotswebsiten, hier ein Beispiel: https://umsetzungsbegleitung-b…che-jugendhilfe/fda-1006/
    Beide Webseiten wurden aufgerufen am 12.2.2021

  • Ihre Interpretation "einer psychischen Störung als Wechselwirkung einer Störung mit der Umwelt" führt die neurologischen Aspekte einer Erkrankung und deren soziale Auswirkungen auf eine analytisch sinnvolle Weise zusammen, formidabel! :-)..... Weil für die meisten psychischen Erkrankungen eine medikamentöse Behandlung, die für Veränderungen in der Ausschüttung oder Disposition von Neurotransmitter sorgt, indiziert ist/wird, hat der Begriff einer psychischen Störung , wenn diese auch noch die volatile Entität einer Seele miteinbezieht, etwas anachronistisches. Dass psychiatrisch diagnostizerbare Erkrankungen wie z.b. Angststörungen sich hauptsächlichen im als deviant markierten Verhalten manifestieren dadurch soziale und psychische Interaktion stören, kann man aber eben auch auf die Einschränkung gewisser kognitiver Funktionen zurückführen, die durch körperliche Dysfunktionen wie Schlafmangel, Essstörungen flankiert werden. Ist man von der Denkweise von MINT Fächern geprägt, referiert man lieber auf eine soziomedizinische Definitionen von Krankheitsbildern als auf einen diffuse Psyche. Für religiös geprägte Menschen kann der Begriff der seelischen Erkrankung auch weitere Konnotationen bedeuten. Studiert man Psychoanalyse oder eine ähnliche philosophisch geprägte Schule der Psychologie divergieren die Vielfalt der Beschreibungen ins Unendliche. Am ICD und der Klassifikation psychischer Erkrankungen gibt es auch interne Kritik, ich erinnere an die Schriften und Interventionen von Alan Frances, der das DSM mitentwickelt hatte. Der Psychoanalytiker Erich Fromm wiederum invertierte in seinem humanistischen Ansatz die Beschreibungen von "Normalen und Psychisch Erkranktem" in manchen seiner Texte völlig, unter dem Verweis dass die Verwerfungen von Warenform geprägten Gesellschaft und deren Entfremdungsmechanismen ein genuin krankes Sozial- Verhalten befördern und sozial belohnen. Gut, dass sozialmedinische, medizinethische philosophische Diskussionen die Neugestaltung des SGB IX hin zu progressiveren Beschreibungen führten die der Diversität von Menschen Rechnung tragen! Vielen Dank!