Bedarfe Studierendender und Promovierender mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen

  • Nicht alle Studierenden mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung haben zusätzliche Bedarfe im Studium. 12% geben an sich durch ihre gesundheitliche Konstitution nicht im Studium beeinträchtigt zu sehen. 11% aller Studierenden geben hingegen an studienerschwerende Beeinträchtigungen zu haben. Für diese Gruppe ist ein Studium in einer nicht barrierefreien Umgebung mit vielen, ganz unterschiedlichen Hindernissen verbunden.


    Für weitere Daten zu dieser Thematik sei auf folgende Studien verwiesen: 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, https://www.studentenwerke.de/…iche-und-soziale-lage-der, Beeinträchtigt Studieren best2,https://www.studentenwerke.de/…ren_2016_barrierefrei.pdf. Die Studien beschreiben die Situation 2016/2017 und sind leider nicht sehr aktuell. Hier fehlt es an aktuellen Daten zur Zielgruppe, die eine Vergleichbarkeit und Beschreibung der Entwicklung der Situation gesundheitlich beeinträchtigter Studierender in der Bundesrepublik ermöglichen würde.


    Behinderungsbedingte Beeinträchtigungen können sehr unterschiedlich aussehen und viele verschiedene Lebensbereiche betreffen. Beginnend mit der Orientierungsphase fehlt es vielen Studieninteressierten bereits an zugänglichen Informationen und der Möglichkeit Angebote der Berufs- bzw. Studienorientierungen barrierefrei wahrzunehmen. Hörbehinderte und gehörlose Schülerinnen und Schüler benötigen Unterstützung in der Kommunikation, z.B. durch Gebärdensprachdolmetscher, um Beratungsangebote der Hochschulen wahrnehmen zu können. Viele sehbehinderte und blinde Studieninteressierte informieren sich wie der Großteil der Gesellschaft über das Internet. Internetpräsenzen, Webportale und digitale Anwendungen die nicht barrierefrei sind und Videos die nicht untertitelt sind, stellen Hürden dar, welche die Betroffenen von Assistenz abhängig machen, die sie eigentlich vielleicht nicht bräuchten. Dann gibt es da noch die Gruppe derer, die aufgrund von Mobilitätsbeeinträchtigung auf Unterstützung angewiesen sind. Für diese Gruppe ist Mobilität grundlegend um Beratungs- und Informationsangebote wahrnehmen zu können. Der deutsche ÖPNV ist nicht flächendeckend barrierefrei, so dass dieser Gruppe oft einzig der Rückgriff auf das familiäre Umfeld bleibt. Ist auch diese Möglichkeit nicht bedarfsdeckend verfügbar, steht Vielen nur die Eingliederungshilfe (EGH) zur Verfügung, um behinderungsbedingte Mehrbedarfe z.B. in Form von KfZ-Beihilfe oder Assistenz abzudecken, um ihre Zukunftsplanung in Angriff nehmen zu können.


    Obwohl die rechtliche Zuständigkeit hier sehr eindeutig geklärt ist, scheitert es in der Praxis oft an der scheinbaren Behäbigkeit der Verwaltung. Langwierige Beantragungsprozesse, erhöhte Nachweispflichten hinsichtlich der Bedarfe und eine „auf Zeit spielende“ Verwaltungspraxis zermürben die Antragsteller*innen. Die Ansprüche geltend zu machen überfordert viele Studieninteressierte und Studierende. Von der Beantragung bestimmter EGH-Leistungen, bis hin zur Umsetzung vergehen viele Monate. Eine am faktischen Bedarf der Leistungsempfänger*innen ausgerichtete und zeitnah zumutbare Umsetzung der Unterstützung ist selten gegeben. Diese Problematik zieht sich über die Schulabschlussphase hinaus, weiter in die Studieneingangsphase und prägt nicht selten den gesamten Studienverlauf.


    Die vielfältigen Fragen rund um Bewerbung und Zulassung zum Studium und die Studieneingangsphase bringen neue Herausforderungen mit sich. Die Studierenden müssen sich in einer vollkommen neuen Umgebung zurechtfinden. Fragen der Studienfinanzierung und des studentischen Wohnens stellen sich hier sicherlich allen Studienanfängerinnen. Doch sind Studierende mit Behinderungen vor ganz besondere Herausforderungen gestellt. Mangelnder bezahlbarer barrierefreier Wohnraum nötigt viele dazu zu Hause wohnen zu bleiben, wenn der Wohnort nah am Studienort liegt. Grundsätzlich steht auch Studierenden das BAföG zur Finanzierung des Studiums offen, doch berücksichtigt dieses behinderungsbedingte Mehrbedarfe nicht. Vielen Studierenden mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen ist eine Finanzierung des Lebensunterhalts aus eigenen Kräften nicht möglich. Neben dem Studium zu jobben ist häufig nicht vereinbar mit den Herausforderungen des persönlichen Gesundheitsmanagements (Therapien, medizinische Behandlungen, erhöhte Erholungsbedarfe, …). So bleibt den Betroffenen einzig der Rückgriff auf eine äußerst ausbaufähige, auf die Zielgruppe zugeschnittene Stipendienlandschaft und der Rückgriff auf ergänzende Leistungen der Sozialhilfe mit den bekannten Hürden und Hemmnissen.


    Starre Studienstrukturen bilden zusätzliche Hürden. Lehr- und Prüfungsbedingungen berücksichtigen die Bedarfe Studierender mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen häufig nicht ausreichend. Lehrvideos sind nicht untertitelt, digitale Vorlesungsskripte oder Präsentationen werden Studierenden oft nicht im Vorfeld zur Verfügung gestellt oder überhaupt nicht zugänglich gemacht. Diejenigen, die nicht schnell genug mitlesen oder mitschreiben können, müssen die Inhalte ebenso mühselig im Selbststudium aufarbeiten, wie diejenigen, die auditiv beeinträchtigt sind und die Lehrinhalte aufwändig nacharbeiten müssen. Die Verwendung nicht barrierefreier didaktischer Mittel, wie z.B. digitale Tools zum gemeinsamen Arbeiten an einem Dokument (wie etwa miroboard oder padlet) sind häufig nicht mit assistiver Technologie vereinbar, wodurch Studierende mit entsprechenden Bedarfen an Lehrformaten nicht hinreichend teilnehmen können. Dabei sind die Hochschulen verpflichtet, dort wo sie (noch) nicht für eine barrierefreie Lehr-/Lernumgebung sorgen können, so genannte angemessene Vorkehrungen zu treffen (UN-BRK). Die Mängel der Zugänglichkeit der Lehr- und Prüfungsformate, können häufig nur durch das Instrument des Nachteilsausgleichs aufgefangen werden. Dieser ist bei gegebenem Sachverhalt stets individuell zu gewähren. Mit großen Herausforderungen in diesem Bereich, sehen sich insbesondere Studierende mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen konfrontiert (vgl. hierzuhttps://www.studentenwerke.de/…eiche-_ennuschat-2019.pdf).


    Weitere Themen in der Beratung sind Fragen zu studienbedingten Praxisphasen und Auslandsaufenthalten, sowie zu (wissenschaftlicher) Karriere bzw. Promotion.

  • Studierenden mit Psychischen Beeinträchtigungen: es bleibt zu erwähnen, dass die Gruppe der Studierenden, die wegen einer psychischen Beeinträchtigung besondere Bedarfe haben könnten, laut der erwähnten Erhebung des Studentenwerkes, die zahlenmässig grösste ist. Leider besteht sehr viel Unsicherheit darüber, welche Nachteilsausgleiche Gruppe verlangen kann. Bedarfe die häufig geäussert werden, sind längeren Abgabefristen bzw. Bearbeitungszeiten bei Klausuren , Ruhe und Rückzugsräume an der Uni, von Psychologen geleitete Unterstützunggruppen und Sensibilisierung der Dozenten/Mitstudierenden.

  • Zunächst begrüße ich das Thema dieses Forums sehr. In der anwaltlichen Praxis erlebe ich immer wieder, dass sehr viele Prüfungsbehörden nicht bzw. nicht ausreichend auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingestellt sind. Dies gilt gleichermaßen für Schüler, Studierende und Promovierende. Legasthenie, ADHS oder Formen des Autismus werden von der Rechtsprechung kaum als Behinderung anerkannt. Die Folge: Nachteilsausgleiche werden wegen eins sog. Dauerleidens nicht gewährt.


    Hier eine kleine - subjektive - Auswahl:


    VIS Berlin - 12 L 19/21 | VG Berlin 12. Kammer | Beschluss | Nachteilsausgleich bei Hochschulprüfungen - Schwerbehinderung


    VIS Berlin - 12 K 528.18 | VG Berlin 12. Kammer | Beschluss | Klage gegen die Feststellung des endgültigen Nichtbestehens einer Prüfung


    VIS Berlin - OVG 5 N 35.16 | Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 5. Senat | Beschluss | Auswirkungen des Dauerleidens eines Prüflings; (keine) Entlassung aus dem Prüfungsrechtsverhältnis


    Soweit zunächst.


    Ich freue mich auf die weitere Diskussion und auf Fragen


    Dr. Martin Theben

  • Danke fuer die Hinweise. In meiner Gruppe inklusionspolitisch engagierter Studierender/Promovierender erscheinen juristische Konstruktionen- wie die des VG Würzburg - dass Dauer"leiden" Beeinträchtigungen oder Neurodiversities nicht zu Nachteilsausgleichen berechtigen, weil sie sowieso das gesamte Leben prägen, durchaus von able´istischem Gedankengut. Erstens beurteilen sie die Situation von ADHS als die eines "beschädigten Lebens" in dem berufliche Ziele nur begrenzt verwirklicht werden können. (Im Unterschied dazu könnte man auf die Untersuchungen des Buches "Mit ADHS erfolgreich im Beruf" des Psychiaters Heiner Lachenmeier verweisen ). Imm Urteil wird aus unserer Sicht die Beeinträchtigung /Behinderung, so denn sie dauerhaft ist , als kontinuierlicher Lebensrahmen, in dem sich der Behinderte stetig bewegt, fehlerhaft konstruiert. Aber eine psychische Beeinträchtigung, die zudem mit Psychopharmaka behandelt wird, unterliegt empirisch gesehen immer Schwankungen der Leistungsfähigkeit. Und gerade die speziellen neurophysiologischen Bedingungen einer Prüfung, durch die sie begleitende Stresssituation (Veränderung des Neurotransmitteroutputs ) gerade bei Prüflingen mit ADHS, also einer durch eine Störung des "Dopaming/Noradrenalin Regulation" bedingten neurologischen Beeinträchtigung, die sonst durch z.b. Ritalin stabilisierte kognitive Situation eben durch Prüfungsstress einer Veränderung (ich nenne es mal im Sinne der newonschen Mechanik: "Beschleunigung") verursachen kann, scheint in dem Urteil nicht berücksichtigt zu werden. Sehr bedauerlich. " 1. Eine ADHS-Erkrankung rechtfertigt als nicht ausgleichsfähiges Dauerleiden keinen Nachteilsausgleich und stellt daher keinen „wichtigen Grund“ iSd § 8 Abs. 7 ASPO 2007 dar. " . Das Urteil " https://www.gesetze-bayern.de/…S-B-2017-N-147800?hl=true"

  • Ich bin Professorin für Psychologie und leite auch eine Unterstützungsgruppe für Studierende mit Autismus-Spektrum-Störungen an meiner Hochschule, die als sehr hilfreich gewertet wird von den Betroffenen. Bei uns bekommen alle erfreulicherweise einen Nachteilsausgleich, es muss allerdings per Attest genau spezifiziert werden, wie dieser aussehen soll (das möchte der Prüfungsausschuss nicht beurteilen). Mein Problem ist, dass an der Hochschule insgesamt noch kein "Bewusstsein" für Inklusion etabliert ist. Aber dass es unsere Gruppe gibt und wir auch ständig kommunizieren, dass es uns gibt, ist schon mal ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

  • @RN und @QU,


    es ist toll, dass es solche Initiativen wie die Ihrigen gibt. Aber diese in der Tat sehr ausgrenzende Rechtsprechung wird nur sehr langsam zu brechen sein, gerade wenn es um Staatsprüfungen geht.


    Ich freue mich auf weitere Beiträge oder Fragen


    Dr. Theben

  • Bedarfe Promotionsinteressierter und Promovierender mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen


    Gerne ergänzen wir hier die Perspektive auf Promotionsinteressierte und Promovierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen auf Basis unserer Erfahrungen und Forschungsergebnisse aus dem Projekt PROMI – Promotion inklusive:


    Zuerst einmal ist zu sagen, dass der Übergang von gesundheitlich beeinträchtigten Hochschulabsolvent*innen in eine Promotion/wissenschaftliche Karriere bereits durch die in Bezug auf Studierende genannten Hürden erschwert wird. So sind bspw. Netzwerkbildung, Tätigkeit als studentische Hilfskraft oder Auslandserfahrungen nicht für alle Studierenden mit Behinderungen zugänglich. Ein Mangel an sichtbaren Vorbildern, die mit Behinderungen promovieren oder promoviert haben und die Tatsache, dass das Thema „Promovieren mit Behinderungen“ noch nicht im gleichen Maße institutionalisiert ist wie Unterstützungsangebote für Studierende, erschweren den Übergang zusätzlich.


    Neben allgemeinen Fragen, die sich Studierende stellen, wenn sie über eine Promotion nachdenken (z. B. Wie finanziere ich die Promotion? Wie finde ich eine Betreuung?) beschäftigen Promotionsinteressierte/Promovierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Besonderen drei Themenfelder:

    • Finanzierung von behinderungsbedingten Mehrbedarfen
    • Zeitmanagement sowie Vereinbarkeit von Krankheitsmanagement und Promotionstätigkeit
    • (Soziale) Unterstützungsstrukturen.



    Finanzierung von behinderungsbedingten Mehrbedarfen: Neben der allgemeinen Frage nach der Finanzierung der Promotion und des Lebensunterhalts, müssen Promovierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen u. U. behinderungsbedingte Mehrbedarfe finanzieren. Dazu gehören personelle und technische Assistenz, Dolmetschung, Arbeitsplatzausstattung etc. Während im Studium hier Leistungen zur Teilhabe an Bildung beantragt werden können, gilt dies nur in seltenen Fällen für die Promotion. Einen Vorteil bietet daher eine sozialversicherungspflichtige Promotionsstelle an der Hochschule, da hier Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragt werden können. Im Gegensatz dazu finanzieren Stipendien häufig keine Unterstützungsleistungen. Dabei weist die Promotion einige Besonderheiten auf, die sie von anderen Arbeitskontexten unterscheidet und die dazu führen, dass das existierende Leistungsangebot häufig zu kurz greift. So entstehen beispielsweise Herausforderungen dadurch, dass Arbeitsassistenzen in der Regel nur für die vertraglich geregelte Arbeitszeit bewilligt werden, an der Promotion jedoch häufig außerhalb dieser Arbeitszeit gearbeitet wird. Auch die Deckung von Bedarfen auf Dienst- und Tagungsreisen und die insgesamt von Wissenschaftler*innen geforderte (internationale) Mobilität sind im Rehasystem nicht ausreichend berücksichtigt und können zu finanziellen Herausforderungen führen.


    Hinzu kommt, dass die Beantragung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben umständlich und langwierig ist. Deshalb können Promovierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach Beschäftigungsbeginn oft erst mit (zum Teil erheblicher) zeitlicher Verzögerung mit der Promotionstätigkeit beginnen. Sie selbst und ggf. auch ihre Betreuer*innen verlieren dadurch nicht nur viel Zeit, sondern auch Energie und Motivation in mühsamen bürokratischen Prozessen.



    Zeitmanagement sowie Vereinbarkeit von Krankheitsmanagement und Promotionstätigkeit: Die Promotionsphase ist für die meisten Promovierenden von einer hohen zeitlichen Belastung geprägt. Die große Mehrheit (90 Prozent) der Promovierenden, die an Hochschulen beschäftigt sind, haben einen befristeten Arbeitsvertrag. Die durchschnittliche Befristungsdauer liegt bei zwei Jahren. In der Regel sind solche Arbeitsverhältnisse an Hochschulen mit einer Vielzahl promotionsfremder Aufgaben (z. B. Lehre, Gremien- und Projektarbeit) verbunden und häufig bestehen wenig explizite Vereinbarungen dazu, welches Zeitbudget für welche Aufgaben (inkl. der Promotion) zur Verfügung steht. Sind Promovierende nicht an der Hochschule beschäftigt, müssen sie ihren Lebensunterhalt auf andere Art und Weise finanzieren, dies steht ebenfalls in zeitlicher Konkurrenz zur Arbeit an der Promotion. Für Promovierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verschärft sich die Situation aufgrund eines zusätzlichen beeinträchtigungsbedingten zeitlichen Mehraufwands, wenn bspw. Tätigkeiten die personeller oder technischer Unterstützung bedürfen langwieriger werden, krankheitsbedingt mehr Pausen nötig sind oder es zu längeren Arbeitsausfällen kommt.


    Darüber hinaus haben viele Promovierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einen zusätzlichen zeitlichen Aufwand für das sog. Krankheitsmanagement (z. B. Arzt- und Therapietermine) und die oben bereits erwähnten bürokratischen Prozesse. Für manche kann dies den zeitlichen Rahmen einer weiteren halben Stelle einnehmen die „in Konkurrenz“ zur Promotionszeit steht. Aufgrund der verschärften zeitlichen Rahmenbedingungen für gesundheitlich beeinträchtigte Promovierende ist es im Betreuungs-/Beschäftigungsverhältnis ganz besonders wichtig, klare Vereinbarungen über Zeitbudgets für bestimmte Tätigkeiten zu treffen und den Spielraum, der im Tätigkeitsfeld Wissenschaft für flexible Arbeitszeitgestaltung besteht, zu Gunsten der Promovierenden zu nutzen. Eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der Höchstbefristungsdauer bietet seit einigen Jahre das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). Laut § 2 des WissZeitVG besteht bei einer Schwerbehinderung und/oder psychischen Erkrankung die Möglichkeit die Höchstbefristungsdauer um zwei Jahre auf acht Jahre zu verlängern. Allerdings besteht hierauf kein Anspruch, sodass Promovierende auf die Unterstützung und finanziellen Mittel ihrer Betreuer*innen/Vorgesetzten angewiesen sind.



    (Soziale) Unterstützungsstrukturen: Um dauerhaft in der Wissenschaft bleiben zu können, müssen sich Wissenschaftler*innen in Qualifizierungsphasen lange Zeit in einem hochgradig kompetitiven Umfeld durchsetzen. Aufgrund der zuvor genannten Herausforderungen, ist dabei für Promovierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen Unterstützung besonders wichtig. An den meisten deutschen Hochschulen gibt es jedoch keine etablierten Beratungs- oder Unterstützungsstrukturen spezifisch für gesundheitlich beeinträchtigte Promovierende. Aufgrund der Unsichtbarkeit der meisten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist es für Promovierende zudem schwierig, Peers oder Rollenvorbilder/Mentor*innen zu finden, die ebenfalls mit gesundheitlicher Beeinträchtigung in der Wissenschaft tätig sind und auf dieser Ebene wertvolle Unterstützung bieten könnten. Im direkten Arbeitsumfeld ist der Erhalt sozialer Unterstützung oder spezifischer behinderungsbezogener Unterstützungsleistungen in der Regel daran gebunden, dass das Arbeitsumfeld über die Beeinträchtigung Bescheid weiß. Da ein Großteil der Beeinträchtigungen unsichtbar ist, entscheiden sich viele Betroffene jedoch aus Angst vor Diskriminierung dagegen, ihre Beeinträchtigung offenzulegen. Rechtlich sind gesundheitlich beeinträchtigte Promovierende nicht zu einer Offenlegung verpflichtet. Bei der häufig schwierigen Entscheidung dazu, wie offen man auf der Arbeit mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung umgehen möchte, unterstützt die Webseite www.sag-ichs.de mit einem interaktiven Selbst-Test.


    Fazit: Promotionsinteressierte und Promovierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen begegnen noch vielen Barrieren im Hochschulalltag. Eine nachhaltige Förderung würde dazu beitragen strukturelle Barrieren und Benachteiligungen an Hochschulen abzubauen. Konkret ist es wichtig, dass Leistungsträger, bspw. die Arbeitsagentur, Prozesse beschleunigen und vereinfachen. Hochschulen als Arbeitgeber*innen können Möglichkeiten der Vorfinanzierung bis zur Bewilligung durch den Leistungsträger etablieren.


    Rechte von Wissenschaftler*innen in der Qualifizierungsphase z. B. zum Nachteilsausgleich, sollten schriftlich in Promotions- und Habilitationsordnung fixiert werden. Außerdem ist eine Vernetzung innerhalb der Hochschule zentral, damit behinderungs- und promotionsspezifisches Wissen gebündelt werden kann, z. B. in Form von Arbeitskreisen und Sensibilisierung der Akteur*innen. Beispiele für solche Vernetzungsstrukturen finden sich hier: https://promi.uni-koeln.de/good-practice/ Auf der Ebene der Promovierenden sind die Unterstützung durch Peers und Beratungsangebote wichtig, entsprechende Möglichkeiten können beispielsweise durch die Graduierteneinrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Bundesweit bietet das PROMI-Projekt einen virtuellen Stammtisch und Peer-Beratung von und für Promotionsinteressierte, Promovierende und Promovierte mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen an: https://promi.uni-koeln.de/vernetzung/


    Antwort von Karoline Rhein, Jana Bauer und Susanne Groth

    Dr. Jana Bauer, Susanne Groth und Karoline Rhein vom Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation der Universität zu Köln setzen gemeinsam das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderte bundesweite Projekt PROMI - Promotion inklusive um (promi.uni-koeln.de).

  • Ein Bedarf, der klar vorhanden ist und fast immer untergeht, weil es nur wenige Betroffene gibt(/zu geben scheint): Es braucht einen realistisch wahrnehmbaren Rechtsanspruch auf eine Verlängerung der Ausbildungsförderung, wenn man behinderungsbedingt zu wenig leistungsfähig ist oder zeitweise war!


    Ja, theoretisch gibt es einen Rechtsanspruch auf eine Verlängerung der Förderung, aber wie um alles in der Welt soll ich die vielfältigen Folgen meiner seelischen Schwerbehinderung objektiv nachweisen? Man kann mir nicht in den Kopf gucken, erst recht nicht retrospektiv. Mein Studium wurde für 2/3 der Regelstudiezeit gefördert. Ich bin Vollwaise, meine Eltern haben beide viele Jahre lang ALG II bezogen, meine Erbschaften bestanden aus Schulden. Der Höhe nach stünde mir der BAföG-Höchstsatz zu. Ich selbst bin seelisch schwerbehindert und eingeschränkt erwerbsfähig. Wegen der eingeschränkten Erwerbsfähigkeit und des Umstands, dass keine nachrangige Existenzsicherung existiert, geriet ich trotz hundertfachen Bewerbens und überobligatorischer Anstrengungen bzgl. eines Nebenjobs bereits in eine Privatinsolvenz. Derzeit klage ich BAföG ein - aber mit mauen Erfolgsaussichten (ohne Anwalt, da keine PKH!).

  • Außerdem frage ich mich:

    Wenn ich Jura studiere, anerkannt schwerbehindert bin und mein Studium trotzdem mit Erwerbsarbeit finanzieren muss und dann die "praktische Studienzeit" ansteht (immerhin drei Monate unbezahlten "Arbeitens")?

    Inwiefern, wenn überhaupt, wird Rücksicht darauf genommen, dass manche Behinderte nicht voll leistungsfähig sind und Praktika nicht in Vollzeit absolvieren können (hinzu kommt noch der erforderliche Job, der wahrscheinlich aber wieder nachteilig ausgelegt wird)?

  • Nachtrag zu so genannten persönlichkeitsprägenden Dauerleiden und dem Urteil .


    Danke fuer die Hinweise. In meiner Gruppe inklusionspolitisch engagierter Studierender/Promovierender erscheinen juristische Konstruktionen- wie die des VG Würzburg - dass Dauer"leiden" Beeinträchtigungen oder Neurodiversities nicht zu Nachteilsausgleichen berechtigen, weil sie sowieso das gesamte Leben prägen, durchaus von able´istischem Gedankengut. Erstens beurteilen sie die Situation von ADHS als die eines "beschädigten Lebens" in dem berufliche Ziele nur begrenzt verwirklicht werden können. (Im Unterschied dazu könnte man auf die Untersuchungen des Buches "Mit ADHS erfolgreich im Beruf" des Psychiaters Heiner Lachenmeier verweisen ). Imm Urteil wird aus unserer Sicht die Beeinträchtigung /Behinderung, so denn sie dauerhaft ist , als kontinuierlicher Lebensrahmen, in dem sich der Behinderte stetig bewegt, fehlerhaft konstruiert. Aber eine psychische Beeinträchtigung, die zudem mit Psychopharmaka behandelt wird, unterliegt empirisch gesehen immer Schwankungen der Leistungsfähigkeit. Und gerade die speziellen neurophysiologischen Bedingungen einer Prüfung, durch die sie begleitende Stresssituation (Veränderung des Neurotransmitteroutputs ) gerade bei Prüflingen mit ADHS, also einer durch eine Störung des "Dopaming/Noradrenalin Regulation" bedingten neurologischen Beeinträchtigung, die sonst durch z.b. Ritalin stabilisierte kognitive Situation eben durch Prüfungsstress einer Veränderung (ich nenne es mal im Sinne der newonschen Mechanik: "Beschleunigung") verursachen kann, scheint in dem Urteil nicht berücksichtigt zu werden. Sehr bedauerlich. " 1. Eine ADHS-Erkrankung rechtfertigt als nicht ausgleichsfähiges Dauerleiden keinen Nachteilsausgleich und stellt daher keinen „wichtigen Grund“ iSd § 8 Abs. 7 ASPO 2007 dar. " . Das Urteil " https://www.gesetze-bayern.de/…S-B-2017-N-147800?hl=true"

    Nachtrag zu den so genannten „Dauerleiden“: Die gesamtgesellschaftlich erhöhte Stigmatisierungsgefahr, insbesondere für Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen, kulminiert meiner Ansicht nach in der diskriminierenden Rechtsprechung zu Nachteilsausgleichen bei so genannten „persönlichkeitsprägenden Dauerleiden“. Vor diesem Hintergrund stimme ich den Aussagen Herrn Thebens und Frau Neras zu. Die Rechtsprechung zu einer gesetzeskonformen Anwendung des ICF-basierten Behinderungsbegriffs zu bewegen, ist ein steiniger Weg. Durch das bereits mehrfach erwähnte und zu Recht gelobte, umfängliche Rechtsgutachten zum Thema von Herrn Prof. Dr. Ennuschat ist ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Damit allein ist aber leider noch nicht viel erreicht. Die Beauftragten und Berater*innen beobachten durch die Reihe eine immer restriktivere Ausgestaltung der Nachteilsausgleiche im Studium für Studierende mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen. Die Landesarbeitsgemeinschaft Studium und Behinderung NRW (LAG SB NRW) sieht diese Entwicklung als sehr kritisch und hat das Urteil OVG Münster dahingehend zum Anlass genommen, eine Pressemitteilung hierzu zu veröffentlichen.

    Darum braucht es auch eine interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Thema „Auswirkungen und Ausgleichsinstrumentarien zur Vermeidung von Teilhabebeeinträchtigungen bei nicht sichtbaren Behinderungen im Hochschulwesen“ aus den Gesundheits- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen, um eine gesamtgesellschaftliche Sensibilität für die Bedeutung dieser Problematik zu erwirken. Dabei darf es aber nicht verharren, denn auch Forschung und Daten zu diesem wichtigen Thema sind notwendig.

    So ist z.B. der Begriff des so genannten persönlichkeitsprägenden Dauerleidens eine Konstruktion des Verwaltungsgerichts und keineswegs wissenschaftsbasiert. Eine ausführliche Beschäftigung der Disziplinen Rehabilitationswissenschaften, Psychologie, (Sozial-)Medizin, etc. erscheint hier notwendig. Die Frage des Ableismus in der Rechtsprechung und Verwaltungspraxis (z.T. auch in gesundheitsbezogenen Forschungsfeldern) ist sicher eine weitere entscheidende Stellschraube. Die Disability Studies und weitere sozialwissenschaftliche Disziplinen könnten in diesem Bereich Pionierarbeit leisten. Auch hier bedarf es wissenschaftsbasierter Auseinandersetzung und (partizipativer) Forschungsbemühungen (z.B. unter Beteiligung der einschlägigen Selbsthilfeverbände im Bereich der AD(H)S und Autismus-Spektrum-Störung u.v.m.), um etwa auch eine datenbasierte Diskussionsgrundlage schaffen zu können.

    Die Notwendigkeit, Forschungsbemühungen zu betreiben und Datenlage zu schaffen, erscheint hier als besonders wichtig.

  • Grundsätzlich stimme ich zu. Andererseits Forschung dauert seine Zeit wenn sie Nachhaltiges bewirken soll. Viele Betroffene stehen aber jetzt in ihren Prüfungen und damit vor der existentiellen Frage ihres weiteren Fortkommens. Dies nur als weiterer Impuls für die Diskussion .


    Grüße


    DR. Theben

  • Welche besonderen Bedarfe haben Studierende und Promovierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen?


    (Dies ist eine Impulsfrage des Teams.)

    Beeinträchtigungen, die erst im Laufe des Studiums auftreten bzw. diagnostiziert werden.


    Bei den meisten Menschen tritt eine Behinderung und/oder chronische Erkrankung häufig erst im späteren Lebensverlauf. Auch unter der Gruppe der Studierenden betrifft dies immerhin 17% derjenigen, die eine oder mehrere studienerschwerende Beeinträchtigungen haben. Diese Gruppe benötigt unter Umständen mehr Zeit, um sich an die neue Lebenssituation und damit einhergehende Veränderungen zu gewöhnen und sich in der jeweiligen, neuen Bedarfslage an das (Studien-)Umfeld anzupassen (BEST2, S. 27).


    Häufig wird dabei vergessen, dass der Prozess einer Diagnose je nach Beeinträchtigung sehr langwierig ist. Gerade bei nicht sichtbaren chronischen Erkrankungen kann dies mitunter Jahre dauern. Jahre, in denen Leistungen erbracht werden, die nicht oder nicht hinlänglich durch Nachteilsausgleiche kompensiert werden (können) und das tatsächliche Leistungsvermögen der Personen nichtzutreffend abbilden. Wenn eine Diagnose erfolgt, dauert es mitunter wieder sehr lange bis entsprechende Therapien einsetzen. Hier kommt es häufig zu enormen Studienzeitverzögerungen. Daran knüpfen sich sozial Probleme der Studienfinanzierung, des Aufrechterhaltens eines Mietvertrages u.v.m.


    Therapieplätze sind gerade im Bereich psychotherapeutischer Versorgung extrem rar und Studierende haben sehr lange Wartezeiten, um überhaupt einen Therapieplatz angeboten zu bekommen. In Ballungsräumen, zu denen Hochschulstandorte oftmals gehören, ist die Situation noch prekärer. Die Psychologischen Beratungsstellen der Studierendenwerke und Hochschulen können hier nur Beratungsleistungen erbringen, aber in der Regel keine engmaschige therapeutische Begleitung und schon gar keine bedarfsdeckende Betreuung gewährleisten. Studierende sind in solch einer Situation häufig auf sich selbst gestellt.


    Wenn eine (stationäre) Reha-Maßnahme dann doch greift, so ist der Wiedereinstieg in das Studium erschwert. Wenige Einrichtungen sind spezialisiert auf die Lebenssituation und das Arbeitsumfeld der modernen Hochschulen (um genau zu sein, ist mir keine bekannt). Eine stufenweise Wiedereingliederung, wie sie bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten üblich ist, ist im Hochschulkontext eher selten anzutreffen, so lassen sich z.B. Prüfungszeiträume nur unter sehr engen Vorgaben flexibilisieren.


    Eine weitere Problematik ergibt sich bei Erkrankungen, die häufig bereits im Jugend- oder Kindesalter diagnostiziert worden sind, deren Auswirkungen im Studium aber verstärkt bemerkbar werden oder erst ganz deutlich zu Tage treten. Auch bei der Diagnose und Feststellung der Teilhabebeeinträchtigungen von beispielsweise Autismus oder Legasthenie im Erwachsenenalter ist es für die Betroffenen regelmäßig eine Odyssee bis zum Erhalt einer Diagnose und entsprechenden bedarfsfeststellenden Unterlagen. Hier scheint es auch einen Mangel an Fachstellen zu geben, die sich in der Diagnose und Begleitung der Klientel auskennt.


    Die negativen Auswirkungen dieser Umstände auf den Studienverlauf bzw. späteren Karriereweg frisch diagnostizierter, bzw. spät diagnostizierter Studierender sind nicht zu unterschätzen.

  • Welche besonderen Bedarfe haben Studierende und Promovierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen?


    (Dies ist eine Impulsfrage des Teams.)

    Es hängt von der Art der Behinderung ab und kann generell in zwei Bereiche geteilt werden. Individuelle und institutionelle Vorkehrungen. Z.B.:


    Individuelle Vorkehrungen:

    • Persönliche Assistenten für Begleitung und Notizen
    • Diktiergeräte
    • Laptop mit Bildschirmleseprogramm
    • Sprachprogramme
    • Dolmetsch-Dienste
    • Digitale Ressourcen
    • Es muss darauf hingewiesen werden, dass ausländische Studierende mit Behinderungen keinen Zugang zu Angemessenen Vorkehrungen haben.

    Institutionelle Anpassungen

    • Barrierefreiheit des Campus inkl. der Bibliothek, relevanter Gebäude und studentischer Wohnheime
    • die Bereitstellung von Dienstleistungen für Studierende mit Behinderungen, z. B. Umsetzungsdienste, Beratungsdienste
    • spezielle Arbeitsräume mit der notwendigen Ausstattung
    • Erholungs- und Ruheräume
    • Nachteilsausgleiche
    • angemessene Vorkehrungen z. B. verlängerte Bearbeitungszeiten, alternative Prüfungsangebote, zugängliche Materialien

    Dazu für Promovierende:


    Bis jetzt haben Promovierende mit Behinderungen keinen Anspruch auf individuelle Vorkehrungen. D.H., dass Promovierende, die nicht im Arbeitsverhältnis an einem Forschungsinstitut sind, keine persönliche Assistenz oder technische Hilfen bekommen können.


    Außer die oben erwähnten Bedarfe, gibt es Bedarfe spezifisch für behinderte Promovierende:

    • Ad-hoc-Stunden für Forschungsprojekte
    • Zeiträume mit reduzierter Aktivität
    • Urlaub wegen Behinderung
    • Befreiung von Lehrtätigkeiten
    • Barrierefreie Tagungsteilnahme
    • Beratung und Unterstützung bei der Beantragung von Forschungsmitteln