Selbstverständnis der Rehaträger im Bereich der Hilfen zum Besuch einer Hochschule/Teilhabe an Bildung/ Studienfinanzierung

  • Das Selbstverständnis der Reha-Träger im Bereich Hochschulhilfen, insbesondere der Bundesagentur für Arbeit (BA)


    Menschen mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung sind einer höheren Gefahr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt als Menschen, die dieses Merkmal nicht erfüllen. Nachweislich steigen die Chancen auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit der Qualifikation. Dadurch ist das Studium mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung, obgleich oft eine große Herausforderung, für Viele die einzige Möglichkeit, wieder oder überhaupt am Arbeitsleben teilzuhaben. Sie können somit zum Bruttosozialprodukt beitragen, das soziale System dieser Gesellschaft unterstützen und an einem stabilen Sozialstaat mitwirken.


    Ein Studium nach Jahren der Berufstätigkeit, ein Studium ohne Abitur, die internationale Mobilität und viele weitere Faktoren haben Einfluss auf die modernen Bildungsbiografien. Diese Umstände lassen sich von den derzeitigen sozialen Fördersystemen nicht zielführend abbilden. Die Politik unterstützt die Durchlässigkeit des (Hochschul-)Bildungssystems, weil sie richtigerweise erkannt hat, dass es in Anbetracht des eklatanten Fachkräftemangels für die Gesellschaft nicht tragbar ist, auf diese wertvollen Ressourcen zu verzichten (Talentförderung, KAoA (Kein Abschluss ohne Anschluss), etc. …). Dies entspricht auch der UN-BRK, die ein Recht auf lebenslanges Lernen formuliert.


    In der Beratung begegnen wir immer wieder Studieninteressierten, die nach abgeschlossener Berufsausbildung und Jahren der beruflichen Tätigkeit aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung eine berufliche Veränderung antreten müssen. Dabei ist eine Unzumutbarkeit der Ausübung der Tätigkeit nicht immer auf einen Unfall zurückzuführen. Manche geraten in Arbeitslosigkeit und können auf dem Arbeitsmarkt keine anschließende Beschäftigung finden. Gerade bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen werden wenige Aussichten jenseits der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) angeboten. Diese Klientel kann ein Studium in der Regel nicht aus eigenen Mitteln finanzieren. Häufig überschreitet die Zielgruppe das Höchstalter des BAföG. Andere finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten fallen ebenfalls weg. Ein Studium als Rehabilitationsmaßnahme wird in solchen Fällen bislang nach unserer Erfahrung nicht in Erwägung gezogen (weder seitens der Bundesagentur für Arbeit noch durch andere Rehaträger, wie z.B. Rentenversicherung). Stattdessen laufen diese potenziell leistungsfähigen Studieninteressierten Gefahr in der Erwerbsunfähigkeitsrente zu landen und aus dieser nicht mehr herauszufinden.


    Es würde mich sehr interessieren in welchem Selbstverständnis die Rehaträger, insbesondere die BA und die Rentenversicherung, hier ein Studium als mögliche Reha-Maßnahme erwägen können. Die gesetzlichen Optionen hierzu müssten seit Inkrafttreten das BTHG vorliegen, bezieht dieses doch in seiner Gesetzesbegründung die BA explizit als möglichen Leistungsträger der Teilhabe zur Bildung im Bereich der Hochschulen mit ein.


    Hat jemand hierauf Antworten?

  • Das Studium als Reha Massnahme ist ein grossartiger und effektiver Vorschlag. Allerdings wird nach unserer langjährigen Netz Erfahrung der Kommunikation mit beeinträchtigten Studieren an verschiedenen Hochschulen einem solche Vorschlag von Seitens der erwähnten Institutionen häufig mit abel´istisch ständischem Dünkel und Irritation begegnet, die Gründe finde dafür bietet ihre klare Darstellung der intersektionellen Strukturen von Armut und Behinderung/ Beeinträchtigung. Die genuin soziologische Antwort, warum diese bestehen, bieten verschiedene Forschungsarbeiten zum Thema Bildungsungerechtigkeit / Klassizismus um Hochschulsystem. Während Eltern aus finanzkräftigeren Schichten ihre Nachwuchs nicht nur ein Studium kofinazieren können, sondern sich oft auch im Form von advocay einsetzen, sind Studierende aus ärmeren, bildungsfernen Schichten auf sich allein oder Institutionen wie Arbeiterkind, die nun seit 2021 einen Diversion Beauftragten haben, gestellt. Warum die Leitungsebenen der Rehaträger nur ein Studium bei den ihnen zugehörige Berufbildungswerken z.b. https://www.bfw-heidelberg.de/…ng-und-studium/Heidelberg oder Berlin als "quasi stationäre Leistung", also in Internatssform mit monatlichen Kosten von 3000 (viertausend) Euro (mündliche Kommunikation bei Beratungstelefonat) bewilligen, entspricht vermutlich der korporativen Struktur der Gesellschaft. Sozialträgerverbände und Werkstättenhaben eine bedeutende Lobby. Bafög fuer ein TZ Studium oder auch einen 2. Versuch nach einem krankheitsbedingten Studien Abbruch zu bewilligen wäre günstiger. Und es gab eine bundesdeutsche Tradition, das Verwaltungsangestellte ohne eigenes Studium, die über den Berufsweg von Menschen mit Anspruch auf Rehaleistung entscheiden, auch ihrer Informationsverpflichtung über soziale Aufstiegsmöglichkeiten nicht nachkommen können, sondern werkstätenbusiness as usual vertreten. Wenn Menschen aus der Gruppe der jahrzehntelang sozial stigmatisierten Behinderten Menschen sich in den letzten Jahren soweit emanzipieren konnten, ein Studium denken zu können, braucht es eindeutiger Massnahmen um das durchzusetzen. :)

  • Liebe Frau Kusal,


    vielen Dank die spannende Frage und den wirklich interessanten Einblick aus Ihrer Beratungspraxis.


    Ich möchte mich zugleich um eine juristische Einordnung der Problematik bemühen.


    Zunächst einmal ist weder die BA noch die GRV zuständiger Rehabilitationsträger für die Leistungen zur Teilhabe an Bildung. Dies ist schon im Gesetzgebungsverfahren zum BTHG auf Kritik gestoßen. Das zeigt aber umso mehr, wie wichtig es ist, nicht vorschnell den Stellenwert von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu übergehen, wenn es um berufsrelevante (Fort-/Weiter-)Bildung geht.


    Es muss also im Einzelfall immer vorrangig geprüft werden, ob es sich bei dem Studium („Bildungsmaßnahme“) um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben handelt, für die die Bundesagentur (BA) oder die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) zuständig sein können. Das Verhältnis zwischen GRV und BA ist in § 22 Abs. 2 SGB III geregelt und besagt, dass die GRV vorrangig vor der BA zu leisten hat.


    Liegen allerdings die Voraussetzungen nach dem Rentenrecht (sprich gem. §§ 10, 11 SGB VI) nicht vor, dann ist die BA zuständiger Träger. Eine Bildungsmaßnahme kann sich dann typischerweise als besondere Leistung zur Teilhabe darstellen, wie sie gem. dem Leistungsrecht zu erbringen ist, vgl. §§ 112, 113 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. §§ 117 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 118 S. 1 Nr. 3 SGB III. Danach umfassen die LTA im Rahmen der beruflichen Weiterbildung auch die Kosten bei Teilnahme an einer Maßnahme.


    Die BA begrenzt die Finanzierung eines Studiums, wenn diese Maßnahme wegen Art oder Schwere der Behinderung in einer besonderen Einrichtung für behinderte Menschen oder in einer sonstigen, auf die Bedürfnisse behinderter Menschen abgestellten (rehaspezifischen) Maßnahme durchgeführt wird. Die Rechtsprechung ist dem jedoch entgegengetreten.


    Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG v. 24.02.2016, Az.: B 8 SO 18/14; BSG v. 20.04.2016, Az.: B 8 SO 20/14 R) hat nämlich für die BA wie auch für die Träger der GRV festgestellt, dass sie im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ebenfalls für Bildungsleistungen leistungsverpflichtet sind, wenn sie den in § 75 Abs. 2 SGB IX genannten Leistungen zur Teilhabe an Bildung entsprechen. Somit wurde höchstrichterlich anerkannt, dass die BA (anstelle des Eingliederungshilfeträgers), bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen, im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch zur Übernahme der Kosten eines Studiums oder einer Promotion verpflichtet sein kann. Ziel der Leistungen und gleichzeitig Voraussetzung ist, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und die Teilhabe am Arbeitsleben dauerhaft zu sichern. Dabei müssen auch die Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes berücksichtigt werden, vgl. § 112 Abs. 2 SGB III.


    Problematisch könnte jedoch der Wortlaut in § 118 S. 1 Nr. 3 SGB III sein. Danach umfassen die besonderen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch die Übernahme der Teilnahmekosten für eine „Maßnahme“. Als Maßnahme versteht man bisher die Durchführung der beruflichen Eingliederung in einer Einrichtung durch einen Träger, wobei diese Maßnahme durch die BA bewilligt sein muss.


    Insofern verengt die BA im Rahmen der Teilhabeleistungen m.E. auch noch zu sehr auf die nichtakademischen Berufsabschlüsse. Dies läuft nicht nur der Arbeitsmarktentwicklung zuwider, sondern verkennt überdies, dass gerade ein Hochschulstudium die Chancen hinsichtlich der Teilhabe am Arbeitsleben verbessern kann.


    Letztlich lässt sich also folgendes festhalten: Für eine Förderung eines Hochschulstudiums als besondere Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben gibt es derweil leider noch keine ausdrückliche Rechtsnorm; jedoch steht eine generelle Verneinung der Zuständigkeit der BA als auch der GRV (bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen) mit dem geltenden Recht ebenso wenig im Einklang.



    Mit freundlichen Grüßen


    Philipp Jahn

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    Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Zugänglichkeit - Inklusion - Partizipation. Nachhaltige Teilhabe an Arbeit durch Recht" (ZIP - NaTAR)

    Redaktionsassistenz Zeitschrift "Recht & Praxis der Rehabilitation" https://uhvw.de/rp-reha.html


    Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit

    Prof. Dr. Katja Nebe

    Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg


  • M.E. sollte auch nicht unterschätzt werden, dass auch für uns, die Behinderten, Berufsfreiheit gilt. Dass Erkrankungen, die eine Behinderung konstituieren, erst im höheren Alter diagnostiziert werden und daher auch erst im höheren Alter nachgewiesen und behandelt werden können (ganz wichtig bei ADHS und Autismus!), führt oftmals dazu, dass ganze Bildungsbiographien sinnfrei irreversibel zerschossen werden (wegen der Altersgrenzen im BAföG, der Nichtförderfähigkeit einer (hoch)schulischen Ausbildung nach einem Studienabbruch, wenn man zuvor zu lange eingeschrieben war, usw.). Jaaa, in der Theorie stehen uns alle möglichen Nachteilsausgleiche zu. In der Praxis scheitert deren Erhalt dann z.B. an der unmöglich nachzukommenden Beweislast oder einem Ressourcenmangel.


    Dass wir eine größere Erwerbslosigkeitsgefahr aufweisen, mag ein zusätzliches Argument für eine gesicherte(re) Studienfinanzierung und ein Mehr an Unterstützung bei der Studienbewältigung darstellen, aus meiner Sicht aber definitiv nicht das primäre.


    Ich z.B. habe nicht einmal für die Dauer der Regelstudienzeit (!) Bafög erhalten, obwohl ich auf den Höchstsatz angewiesen war (Vollwaise, kein Vermögen, meine Eltern hatten ALG II bezogen). Und auch die mentalen Anpassungsdefizite, wie ich sie als Nichtakademikerkind und ehemalige Hauptschülerin an der Universität aufwies, sollten beim BAföG usw. berücksichtigt werden (können). Obwohl ich seitens objektiver Dritter bestätigt hatte, dass ich über gute intellektuelle Fähigkeiten verfüge, habe ich existenzielle (!) Panik erlitten, wenn ich etwas nicht auf Anhieb verstand.

    Und insbesondere sollten auch etwaige kumulative Erschwernisse, die sich z.B. ergeben können, wenn man seelisch behindert als Nichtakademikerkind studiert und das Nichtakademikerkindsein die seelische Behinderung verstärkt, Berücksichtigung finden.

  • Das Land Berlin geht einen vom bundesrechtlich vorgegebenen abweichenden Weg. Das Berliner Hochschulgesetz hat die zu verwirklichende Diversität an Hochschulen im vergangenen Jahr durch das Hochschulgesetz deutlich gestärkt. Auch vorher war die Verpflichtung des hier im Forum angesprochenen Personenkreises ausdrücklich verankert. Ich zitiere hier einmal aus dem Ratgeber des studierendenWERKs Berlin, Barrierefrei Studieren in Berlin, S. 7 (https://www.stw.berlin/assets/…refrei_Studieren_2021.pdf)


    "In Berlin wurde ein anderer Weg zur individuellen Unterstützung Studierender mit Behinderung und chronischer Erkrankung eingeschlagen. ... Die Aufgabe, Inklusionsleistungen an Studierende zu vergeben, wurde der Beratung Barrierefrei Studieren des studierendenWERKs BERLIN übertragen. Richtlinien, die diese Vergabe von Leistungen zur Umsetzung einer inklusiven Hochschule konkretisieren, wurden von den Hochschulen, der Berliner Senatskanzlei für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle entwickelt. Diese werden regelmäßig an Veränderungen in der Hochschullandschaft angepasst. Das Berliner Modell macht Hilfen aus einer Hand möglich. Die Vergabe an
    Studienbewerber*innen und Studierende erfolgt unter Berücksichtigung des beeinträchtigungsbedingten Bedarfs. Auch Promotionsstudierende haben in der Regel Anspruch auf Leistungen der Integrationshilfe, sofern sie nicht für die Promotion an der Hochschule angestellt sind. In
    solch einem Fall ist das Integrationsamt zuständig."


    Auf S. 8 der Broschüre sind die einzelnen Inklusionsleistungen aufgezählt: Studienassistenz / Kommunikationshilfen / Technische Hilfsmittel / Büchergeld .


    Aus meiner Erfahrung als Beauftragte für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen an der HWR Berlin ist dies ein gute Lösung mit einem für die Studierenden transparenten und gut zugänglichen Verwaltungsverfahren, das unkompliziert vom studierendenWERK im Einzelfall abgewickelt wird.