Stufenweise Wiedereingliederung: Fahrtkostenerstattung --> Zuzahlung Gesetzesgrundlage

  • Guten Abend,


    ich habe zwei Wiedereingliederungen hinter mir (im Jahr 2021) und habe zwei mal einen Antrag auf Fahrtkostenerstattung gestellt.

    Der erste wurde komplett ignoriert und bei der zweiten Wiedereingliederung wurde ein erheblicher Betrag von dem Zuschuss abgezogen mit der Begründung wegen Zuzahlung.


    Gibt es dafür eine Gesetzesgrundlage/muss man bei Fahrtkostenzuschuss eine Zuzahlung abziehen (es wurden 10€ pro Fahrt abgezogen)


    Ich habe gerade mit einem Bekannten telefoniert, der auch Fahrtkostenzuschuss für seine Wiedereingliederung bekommen hat, und er hatte keine Abzüge wegen Zuzahlung.

    Seine Krankenkasse ist die KKH... Meine die AOK



    Grüße Karl

  • Sehr geehrter Karl_92,


    die stufenweise Wiedereingliederung (StW) dient dazu, Beschäftigte bei längerer Krankheit schonend und durch schrittweise Steigerung ihrer betrieblichen Tätigkeiten trotz noch bestehender Arbeitsunfähigkeit wieder an ihre volle Belastung heranzuführen. Im Sozialrecht finden sich dazu ausdrückliche Rechtsgrundlagen, zum einen in § 74 SGB V, aber auch in § 44 SGB IX. Für die arbeitsvertragliche Ausgestaltung gibt es keine ausdrücklichen Gesetzesregeln. Darauf kommt es hier aber auch nicht an, denn es geht in Ihrer Frage ja auch klar um etwaige Fahrkostenunterstützung durch Ihre Krankenkasse. Ausgehend von Ihrer Frage ist anzunehmen, dass Sie während der StW auch Krankengeld von Ihrer Krankenkasse erhalten haben, also Ihre Krankenkasse für die StW zuständig war.


    In diesem Fall gilt neben den Vorschriften des SGB IX (also neben § 44 SGB IX) vor allem auch das Leistungsrecht der Gesetzlichen Krankenversicherung, also das SGB V.


    Die höchstrichterliche Rechtsprechung und die überwiegende Auffassung in Wissenschaft und Praxis sehen die StW als eine eigenständige Hauptleistung zur medizinischen Rehabilitation an. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden gem. § 64 Abs. 1 Nr. 5 SGB IX durch Reisekosten ergänzt. Und zu den Reisekosten zählt das SGB IX auch Fahrkosten, vgl. § 73 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Folglich zählt die Fahrkostenerstattung zu den „ergänzenden Leistung“, welche die StW begleitend unterstützen sollen. Damit findet sich also schon allgemein im Recht der Teilhabeleistungen die erste wichtige Aussage: Auf der Basis der §§ §§ 64 Abs. 1 Nr. 5, 73 SGB IX sind bei einer StW Fahrkosten zu übernehmen. Demnach sind Versicherten durch den verantwortlichen Rehabilitationsträger neben der Absicherung zum Lebensunterhalt (bei Zuständigkeit der Krankenkasse in Form von Krankengeld) auch Fahrkosten zu gewähren.


    Wie genau dies dann ausgestaltet ist, hängt vom sogenannten Leistungsgesetz des jeweiligen Rehabilitationsträgers ab. In Ihrem Fall war offensichtlich die KK zuständig für die StW und damit mit ergänzende Leistungen (einschließlich Fahrkosten). Das Leistungsrecht der GKV, sprich das SGB V, verweist für Fahrkosten im Zusammenhang mit einer medizinischen Rehabilitation in § 60 Abs. 5 SGB V auf § 73 Abs. 1 und 3 SGB IX. Die nähere Berechnung zur Höhe des Fahrkostenanspruchs ergibt sich damit aus § 73 Abs. 4 SGB IX. Danach sind entweder die tatsächlichen Kosten bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder die Wegstreckenentschädigung nach dem Bundesreisekostenrecht zu übernehmen.


    Eine Regelung über eine Zuzahlung zu Fahrkosten findet sich nicht.


    Zwar sind im Recht der GKV Zuzahlungspflichten in § 61 SGB V geregelt. Die StW wird allerdings nicht von § 61 SGB erfasst. Bei der StW handelt es sich weder um eine stationäre Leistung, noch um Heilmittel oder häusliche Krankenpflege. Eine Kürzung wegen Zuzahlung kann nicht auf § 61 SGB V gestützt werden.


    Im Recht der GKV findet sich in § 40 Abs. 5 bis 7 SGB V noch eine spezielle Zuzahlungsregelung, wenn Versicherte eine medizinische Rehabilitation nach § 40 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB V in Anspruch nehmen. Allerdings regelt diese Norm gerade nicht die StW. Die StW erfolgt im Betrieb und nicht in einer Rehabilitationseinrichtung, wie von § 40 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB V vorausgesetzt.


    Nach alledem findet sich keine Bestimmung, die in Ihrem Fall für eine Kürzung der Fahrkosten im Wege einer pauschalen Zuschusspflicht spricht. Im Übrigen wäre interessant zu wissen, wie die Krankenkasse die Ablehnung oder Kürzung der beantragten Fahrkosten begründet hat.


    Es muss aber auch dazu gesagt werden, dass es einzelne Sozialgerichte und wenige Literaturstimmen gibt, die eine Fahrkostenübernahme durch den Träger der medizinischen Rehabilitation ablehnen. Mit Spannung erwarten daher viele Menschen die Entscheidung des Landessozialgerichts Chemnitz (AZ: L 1 KR 340/21), in der dieses über eine Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts Leipzig (AZ: S 22 KR 100/21) zu entscheiden hat, in dem Fahrkosten bei StW versagt worden sind.

    Mit freundlichen Grüßen


    Team ZIP-NaTAR Standort Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

    Projekt "Zugänglichkeit - Inklusion - Partizipation. Nachhaltige Teilhabe an Arbeit durch Recht (ZIP - NaTAR)"


    Standort Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

    Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit

    Prof. Dr. Katja Nebe

  • Gibt es dafür eine Gesetzesgrundlage/muss man bei Fahrtkostenzuschuss eine Zuzahlung abziehen (es wurden 10 € pro Fahrt abgezogen)

    [Rz. 11] „Die in der Krankenversicherung üblichen Zuzahlungen (§ 60 Abs. 2 iV.m. § 61 Satz 1 SGB V) werden nicht erhoben, weil Zuzahlungen dem § 73 SGB IX fremd sind“ auch laut dem Kommentar von Siegfried Wurm zum § 73 SGB IX. Um welche AOK handelt es sich denn hier?

  • Hallo,


    ich bin neu hier im Forum. Meine Krankenkasse hat genau mit diesem Urteil meinen Antrag auf Übernahme der Fahrkosten abgelehnt.

    Es muss aber auch dazu gesagt werden, dass es einzelne Sozialgerichte und wenige Literaturstimmen gibt, die eine Fahrkostenübernahme durch den Träger der medizinischen Rehabilitation ablehnen. Mit Spannung erwarten daher viele Menschen die Entscheidung des Landessozialgerichts Chemnitz (AZ: L 1 KR 340/21), in der dieses über eine Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts Leipzig (AZ: S 22 KR 100/21) zu entscheiden hat, in dem Fahrkosten bei StW versagt worden sind.

    Ich habe mit Hinweis auf die noch nicht Rechtskräftigkeit des Urteils der Ablehnung widersprochen.


    Zu den Fahrtkosten möchte ich noch anmerken, dass auch die AOK Niedersachsen einen Eigenanteil einbehält in Höhe von 10% pro Fahrt, mindestens jedoch 5,-€. Bei mir geschehen bei Tagespendelfahrten zur Tagesklinik. Aber hier nicht 10% pro Fahrt, sondern 10% von der Gesamtsumme.

  • Wir begrüßen es sehr, dass Sie gegen den Bescheid Ihrer Kasse Widerspruch eingelegt haben, denn die große Mehrzahl der Sozialgerichte bejaht die Erstattung von Fahrtkosten nach §§ 64, 73 SGB IX bei der stufenweisen Wiedereingliederung. Es ist allerdings wichtig, dass Sie sich von einer kompetenten Person/Organisation bereits im Widerspruchsverfahren vertreten lassen.

    Nach unserem Überblick kommt der auch sachlich unpassende Widerstand gegen die Fahrtkostenerstattung von einigen Krankenkassen, so dass diese Frage auch in den Organen der Selbstverwaltung zu diskutieren ist. Gewerkschaften und Behindertenverbände können hier auch das Instrument der Verbandsklage nach § 85 SGB IX einsetzen.

  • Hallo W.Kohle,


    danke für den Hinweis, ich habe den Beauftragten der IG Metall mit hinzugezogen und werde durch ihn im Widerspruchsverfahren begleitet. Ich denke auch das es noch sehr viel Nacharbeit zu tun gibt, im Rahmen der Beteiligung am Arbeitsleben schwerbehinderter und gleichgestellter Personen, gerade weil derzeit sehr viel vom Fachkräftemangel gesprochen wird, aber da wenig zur Sprache kommt, dass auch die Integration vieler behinderter oder gleichgestellter Fachkräfte nicht stattfindet. (aber das ist hier ja gerade nicht das Thema)


    Danke für dieses Forum

  • Guten Abend,

    ich bin neu im Forum und habe ebenfalls Schwierigkeiten mit der Erstattung der Fahrtkosten für die StW.

    Allerdings mit der Begründung der DRV Mitteldeutschland: "Ihrem Antrag können wir nicht entsprechen, da die StW bereits vor Stellung des Antrages beendet war. Eine außergewöhnliche finanzielle Belastung, die die Durchführung Ihrer StW gefährden konnte, war somit nicht gegeben."

    Nach meiner OP war ich 6 Wochen krank mit Bezug von Lohnfortzahlung durch den AG, dann Krankengeld von KK, dann Reha mit Zahlung von Übergangsgeld durch DRV, welches auch für die Zeit der StW gezahlt wurde. Und jetzt eine solche Aussage der DRV! Hätte ich den Antrag wirklich schon vor Beginn der StW stellen müssen (darauf hat mich auch kein Sozialarbeiter bei der Reha hingewiesen) oder ist das nur Taktik der DRV?

    Hat ein Widerspruch gegen diesen Bescheid erfolgschancen?

    Vielen Dank für Ihre Antwort.

  • Allerdings mit der Begründung der DRV Mitteldeutschland: "Ihrem Antrag können wir nicht entsprechen, da die StW bereits vor Stellung des Antrages beendet war. Eine außergewöhnliche finanzielle Belastung, die die Durchführung Ihrer StW gefährden konnte, war somit nicht gegeben."

    Hat ein Widerspruch gegen diesen Bescheid Erfolgschancen?

    Ja – unbedingt fristgerecht gegen DRV Widerspruch einlegen! Die Begründung dieser DRV ist frei erfunden, sozialrechtlich ohne Relevanz und m.E. skandalös nach neuerer obergerichtlicher Rechtsprechung und laut Fachschrifttum zum SGB IX. Selbst nach vier Jahren hätten Sie noch Antrag stellen können, zumal mehrjährige Verjährungsfrist. Offenbar hat sich diese DRV an dem längst obsoleten Fehlurteil zur Teilablehnung des SG Düsseldorf, 12.09.2016 - S 9 KR 632/15, orientiert. Ihre Erfolgschancen schätze ich sehr hoch ein! Bitte Ergebnis Ihres Widerspruchs mitteilen, dann ggf. weitere Infos, Literatur, RSpr.


    • Nähere Infos bei Wikipedia mit zahlreichen aktuellen Quellen und Belegen, die entsprechend auch für die DRV gelten, zu Ihrem Anspruch auf Erstattung der Fahrkosten bei StW.


    • Zu weiteren oft bewährten DVfR-Arbeitshilfen zur Durchsetzung Ihres bundesgesetzlichen Anspruchs auf Fahrkosten klicken Sie hier. Lassen Sie sich bloß nicht abwimmeln durch solche m.E. dreisten, völlig haltlosen, durchsichtigen und durch neuere LSG-RSpr längst obsoleten „Begründungen“ per Textbaustein.


    Kontextlinks:

    DVfR-Glossar 12/2020

    DVfR-Gutachten A5/2022

  • DRV Mitteldeutschland: "Ihrem Antrag können wir nicht entsprechen, da die StW bereits vor Stellung des Antrages beendet war. Eine außergewöhnliche finanzielle Belastung, die die Durchführung Ihrer StW gefährden konnte, war somit nicht gegeben."

    Das mag schon sein, ist aber rechtlich ohne Belang, weil es solchen gesetzlichen Ausschlusstatbestand nicht gibt, also frei erfunden von DRV-Bürokraten und reine Willkür. Eine solche (gesetzliche) Fristenregelung existiert nicht im Sozialgesetzbuch, also „Desinformation“:


    Die Ablehnung der DRV mit dieser Begründung ist reine Willkür dieser Rentenversicherung laut SG Bremen 26.10.2023 – S 14 R 125/19 (rkr.) mit Verweis auf SG Neuruppin, 26.01.2017 - S 22 R 127/14, und SG Berlin, 29.11.2018 - S 4 R 1970/18, sowie mehrere Senate des BSG. Verurteilt wurde die DRV Bund zu Fahrkosten (Wegstreckenentschädigung). Dazu ausführlich u.a. Rechtsgutachten in: SGb 11/2023 Abschnitt VI, von drei ausgewiesenen Reha-Expert:innen Prof. Dr. Katja Nebe/ Linda Albersmann/ René Dittmann.


    Die StW ist „eigenständige Leistung zur medizinischen Rehabilitation“ und demnach ergänzungsfähig durch Fahrkosten (vgl. für viele nur Prof. Dr. Luik, RiBSG, LPK-SGB IX, § 44 SGB IX Rn. 7 und Rn. 28, sowie Prof. Dr. Welti, Soziale Sicherheit 11/2018, Seite 461). Das gegenteilige äußerst fragwürdige Fehlurteil des Ersten Senates des LSG Sachsen vom 21.09.2022 – L 1 KR 365/20 (AOK Plus Sachsen / Thüringen) wurde vom Rehabilitanden angegriffen per Revision – derzeit anhängig beim BSG – B 1 KR 7/23 R