Haben Menschen mit Behinderungen individuelle Rechtsansprüche auf Barrierefreiheit und wie können sie diese gegebenenfalls durchsetzen?

  • Vielen Dank für Ihre Frage! Vorweg: Ja, Menschen mit Behinderungen haben individuelle Rechtsansprüche auf Barrierefreiheit und können diese auch gerichtlich durchsetzen, was ich gerne näher erläutern möchte.


    Zunächst verpflichtet die UN-Behindertenrechtskonvention die Vertragsstaaten und damit auch Deutschland zur Barrierefreiheit in sämtlichen Lebensbereichen (Art. 9 UN-BRK). Barrierefreiheit schließt dabei nicht nur die räumliche Barrierefreiheit (z.B. von Gebäuden) ein, sondern unter anderem auch die kommunikative Barrierefreiheit sowie die Barrierefreiheit von bestimmten Prozessen und Dienstleistungen. Hierdurch soll der gleichberechtigte Zugang zu allen Lebensbereichen für alle Menschen ermöglicht werden. Besteht im Einzelfall eine Zugangsbarriere, weil die barrierefreie Gestaltung (z.B. eines Gebäudes) noch nicht erfolgt ist, müssen angemessene Vorkehrungen (z.B. Rampe, Assistenzhund, Assistenzperson) gewährt werden. Die angemessenen Vorkehrungen sind Teil des Diskriminierungsverbots gemäß Art. 5 Abs. 2 UN-BRK sowie auch Art. 3 Abs. 3 S. 2 des Grundgesetzes. Gegen eine Diskriminierung kann man sich auch gerichtlich wehren.


    Konkretere Verpflichtungen zur Barrierefreiheit beinhalten das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG) sowie die Landesbehindertengleichstellungsgesetze. Das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes richtet sich an die Träger öffentlicher Gewalt („Bundesbehörden“), bei den Reha-Trägern sind hier insbesondere die Bundesagentur für Arbeit sowie die DRV Bund zu nennen. Die Landesverwaltungen sind an die Landesbehindertengleichstellungsgesetze gebunden, die ähnliche Regelungen beinhalten wie das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes.


    Das BGG verpflichtet die Träger öffentlicher Gewalt zur Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr (§ 8 BGG), Kommunikation (§§ 9-11 BGG) sowie IT (§ 12a BGG). Zusätzlich beinhaltet das BGG ein Benachteiligungsverbot (§ 7 Abs. 1 BGG) einschließlich eines Anspruchs auf angemessene Vorkehrungen (§ 7 Abs. 2 BGG).


    Dieses Gesetz vermittelt auch individuelle Rechtsansprüche:


    Menschen mit Hör- und Menschen mit Sprachbehinderungen haben gegenüber den Trägern öffentlicher Gewalt zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren einen Rechtsanspruch auf Gebärdensprachdolmetscher und weitere erforderliche Kommunikationshilfen (§ 9 Abs. 1 BGG) nach der Kommunikationshilfenverordnung. Blinde und sehbehinderte Menschen haben einen Anspruch darauf, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden (§ 10 Abs. 1 S. 2 BGG). Menschen mit geistigen und seelischen Beeinträchtigungen haben einen Anspruch darauf, dass ihnen Bescheide, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke in einfacher und verständlicher Weise (§ 11 Abs. 1 S. 2 BGG) oder in Leichter Sprache erläutert werden (§ 11 Abs. 2 BGG). Zwar handelt es sich bei der letztgenannten Norm lediglich um eine Soll-Vorschrift, jedoch darf eine Behörde nur in einem atypischen Sonderfall von der Rechtsfolge, namentlich der Erläuterung in einfacher oder Leichter Sprache abweichen, sodass im Regelfall ein Anspruch besteht. Im gesamten Sozialrecht und im Sozialverwaltungsverfahren gelten zudem § 17 Abs. 2 sowie Abs. 2a SGB I und § 19 Abs. 1 sowie § 19 Abs. 1a SGB X. Menschen mit Hörbehinderungen und Menschen mit Sprachbehinderungen haben danach auch im Verwaltungsverfahren vor allen Sozialbehörden einen Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscher oder Kommunikationshilfen (§ 19 Abs. 1 S. 2 SGB X). Dasselbe gilt für die Ausführung von Sozialleistungen in der Praxis (auch Rehabilitationsleistungen, § 17 Abs. 2 SGB I). Verantwortlich für die Leistung sind die jeweiligen Leistungsträger. Gleichermaßen müssen die Sozialbehörden Menschen mit geistiger oder seelischer Beeinträchtigung Bescheide und weitere Dokumente in einfacher oder Leichter Sprache erläutern (§ 19 Abs. 1a SGB X) und auch bei der Ausführung von Sozialleistungen muss die Kommunikation bei Bedarf in Leichter Sprache erfolgen (§ 17 Abs. 2a SGB I).


    § 8 Abs. 1 BGG sowie § 12a Abs. 1 BGG begründen zwar ihrer Formulierung nach nur eine objektiv-rechtliche Verpflichtung der Träger öffentlicher Gewalt, sie können aber auch individualschützend sein, somit einen individuellen Rechtsanspruch vermitteln und eingeklagt werden, wenn sich aus der mangelnden Umsetzung eine Benachteiligung ergibt, die gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, Art. 5 Abs. 2 UN-BRK sowie § 7 Abs. 1 BGG verboten ist. Der verwehrte Zugang zu einem Gebäude durch mangelnde Barrierefreiheit sowie die verwehrte Möglichkeit, auf Internetseiten zuzugreifen und sich dort (ggf. auch über Leistungsansprüche) zu informieren, stellt m.E. eine Benachteiligung dar.


    Der individualschützende Charakter der genannten Normen ergibt sich auch unmittelbar aus § 14 S. 1 BGG, wonach die anerkannten Behindertenverbände nach § 15 Abs. 3 BGG die Prozessstandschaft übernehmen können und im Namen von Menschen mit Behinderungen klagen können, wenn diese in ihren Rechten aus § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1 S. 2 oder § 12a BGG verletzt wurden. Eine Klage ist aber auch individuell ohne die Prozessstandschaft möglich. Bei Rehabilitationsleistungen sind i.d.R. die Sozialgerichte zuständig. Hierbei ist unter Umständen auch vorab ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Der Rechtsweg vor den Sozialgerichten ist kostenfrei (§ 183 SGG).


    Eine gute Alternative zu einer Klage stellt das ebenfalls kostenfreie Schlichtungsverfahren nach § 16 BGG dar. So können die Streitigkeiten in Bezug auf die Rechte nach dem BGG in vielen Fällen auch außergerichtlich behoben werden, indem eine gütliche Einigung erzielt wird. Während des Schlichtungsverfahrens ruhen die Rechtsbehelfsfristen, d.h. dass ein Widerspruch gegen einen Bescheid auch noch nach dem Schlichtungsverfahren erhoben werden kann (i.d.R. binnen eines Monats), falls keine gütliche Einigung erzielt werden konnte (§ 16 Abs. 2 S. 2 BGG). Die Schlichtungsstelle des Bundes ist aber nur zuständig, wenn Antragsgegner ein Träger öffentlicher Gewalt des Bundes ist (siehe dazu: https://www.schlichtungsstelle…undesverwaltung-node.html). Die Möglichkeit eines Schlichtungsverfahrens besteht aber auch in einigen Bundesländern.


    Daneben gibt es noch die Möglichkeit einer Verbandsklage, die von den Verbänden nach § 15 Abs. 3 BGG erhoben werden kann, wenn die Voraussetzungen nach § 15 Abs. 2 BGG vorliegen. Problematisch ist, dass das Ziel der Verbandsklage lediglich die Feststellung eines Verstoßes gegen die in § 15 Abs. 1 S. 1 BGG genannten Regelungen ist und hiermit keine individuellen Rechte durchgesetzt werden können.

  • Zu der umfassenden Antwort von Christina Janßen gibt es im Grunde nichts mehr hinzuzufügen. Ich möchte daher auch nur noch einmal bekräftigen, dass mangelnde Barrierefreiheit eine verbotene Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen sein kann. Für diejenigen Rehabilitationsträger, die sich an das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes halten müssen, ergibt sich das auch ausdrücklich aus § 7 Abs. 1 S. 4 BGG, wo eine solche Benachteiligung (widerleglich) vermutet wird, wenn gegen eine Pflicht zur Herstellung von Barrierefreiheit verstoßen wird.

  • Wer sich von einem (Behinderten-)Verband bei der Durchsetzung ihrer/seiner Rechte durch eine (von Christina Janßen oben beschriebenen) Prozessstandschaft oder allgemein durch eine - nicht auf den Einzelfall bezogene - Verbandsklage unterstützen lassen möchte, findet unter diesem Link eine Liste aller vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach § 15 Abs. 3 BGG dafür anerkannten Verbände:



    Daneben gibt es auch in den Landes-Behindertengleichstellungsgesetzen Rechtsschutzmöglichkeiten durch Verbände.

  • Zu den Beiträgen von Frau Janßen und Herrn Hlava, die die Rechtslage bereits sehr gut darstellen, möchte ich im Wesentlichen im Hinblick auf das Schlichtungsverfahren konkretisieren:


    Das Schlichtungsverfahren nach § 16 BGG wird auch in Bezug auf Leistungen zur Rehabilitation durch die Bundesträger (DRV Bund, DRV KBS, Bundesagentur für Arbeit, sowie die bundesunmittelbaren Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und Unfallversicherung) mittlerweile häufig in Anspruch genommen.


    Meist geht es dabei um das Benachteilgungsverbot und angemessene Vorkehrungen. Die Schlichtungsstelle hat 2018 ein Gutachten erstellen lassen, bei dem die Reichweite und Durchsetzbarkeit der angemessenen Vorkehrungen untersucht wurden (Welti/Frankenstein/Hlava, Angemessene Vorkehrungen und Sozialrecht, Gutachten erstattet für die Schlichtungsstelle nach dem Behindertengleichstellungsgesetz, Berlin 2018).


    Daraus ergaben sich eine Reihe von Anwendungsfällen, die besonders hinsichtlich der Gewährung von Rehaleistungen relevant sind:

    So kann eine Benachteiligung i.S.d. § 7 BGG unter anderem durch die Verletzung von Verfahrensvorschriften erfolgen, soweit diese vom Gesetzgeber auch im Hinblick auf die besondere Situation von Menschen mit Behinderungen erlassen und ausgestaltet worden sind. Daneben zeigt sich der Gedanke der angemessenen Vorkehrungen in der Ausgestaltung der Beratungspflichten nach §§ 14, 15 SGB I. Ebenso können Verstöße gegen das Gebot der Amtsermittlung nach § 20 SGB X eine verbotene Benachteiligung sein, wenn Beeinträchtigungen, Barrieren und Leistungsangebote nicht ausreichend ermittelt wurden, deren Kenntnis für den vollen und gleichberechtigten Zugang zu Leistungen aber erforderlich ist oder aber das Eingangsverfahren so ausgestaltet ist, dass es für einige Menschen aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht ohne größere Schwierigkeiten durchlaufen werden kann (z.B. Eingangsverfahren ausschließlich als Gruppenmaßnahme, wenn eine Teilnahme daran für eine Person mit Autismusspektrumstörung nicht möglich ist). Ansonsten ist das Gebot angemessener Vorkehrungen auch dann relevant, wenn es um überlange Verfahrensdauern geht.


    Und neben den Verfahrensvorschriften kann auch die materielle Rechtsanwendung Gegenstand eines Schlichtungsverfahrens nach dem BGG sein. § 7 Absatz 2 BGG schafft zwar keine neuen Leistungsansprüche, ist aber im Bereich der Auslegung der Ermessensausübung zu berücksichtigen. Erforderlich ist im Zusammenhang mit der Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe insbesondere, dass das Benachteiligungsverbot und andere Rechtsquellen angemessener Vorkehrungen bei der Rechtsanwendung erkannt und in die Abwägung einbezogen werden.