Zugänglichkeit und Inklusion im Berufsbildungssystem und in der beruflichen Rehabilitation

    • Offizieller Beitrag

    Der UN-Fachausschuss hat (nicht nur) Deutschland empfohlen, das Berufsbildungssystem umzustrukturieren und Maßnahmen zur Zugänglichkeit und Inklusion zu gewährleisten. Dazu sollen u. a. Beschwerdemechanismen zur Untersuchung von diskriminierenden Praktiken in der beruflichen Rehabilitation und Arbeit eingerichtet werden.


    • Welche Reformerfordernisse folgen aus diesen Empfehlungen?
    • Welche Maßgaben sind bei der Umstrukturierung des Berufsbildungssystems zu beachten?
    • Welche Maßnahmen erscheinen zur Umsetzung dieser Empfehlungen geeignet?

    (Dies sind Impulsfragen des Teams)

  • Welche Maßgaben sind bei der Umstrukturierung des Berufsbildungssystems zu beachten?


    Wichtig finde ich, dass wir uns von der Idee verabschieden, dass berufliche Bildung für junge Menschen mit Behinderung lediglich in Sonderstrukturen stattfinden kann. Das wäre die wichtigste Umstrukturierung und vor allem ein grundsätzliches Umdenken. Inklusion in der Berufsbildung findet im allgemeinen System statt, mit angemessenen Vorkehrungen, Unterstützung, Coaching und Begleitung und vielem mehr. Aber nicht an Sonder-Orten und in Sonder-Welten. Auch wenn wir die jahrzehntelang so hübsch eingerichtet auf aufgebaut haben. Jetzt gilt es, sie abzubauen.

  • ...Dem kann ich nur zustimmen. Eine der größten Herausforderungen dürfte dabei sein, den entsprechenden, individuellen Bedarfen im Rahmen des allgemeinen Systems tatsächlich und angemessen (!) entsprechen zu können.


    Als Beispiel: In einem unserer Forschungsvorhaben zur Förderung von Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeigte sich, dass auch nach erfolgreichem Übergang auf den Arbeitsmarkt (aus WfbM, aus SBBZ, nach Vorbereitung in entsprechenden „Maßnahmen“,…) diese Mitarbeitenden von ihren Weiterbildungsrechten als Arbeitnehmende wenig Gebrauch machten: Zwar haben sie selbstverständlich die gleichen Rechte auf Fort- und Weiterbildung wie alle Beschäftigten des allgemeinen Arbeitsmarktes, es gab jedoch keinen Hinweis darauf, dass Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogramme in erkennbarem Maße genutzt würden. Wir können annehmen, dass sich viele der auf dem Markt angebotenen Weiterbildungsangebote für diese Zielgruppe auch nur bedingt eignen. Und nicht in allen Fällen reichen z.B. Kommunikationshilfen, AssistentInnen, u.Ä. aus, um die Angebote für die Zielgruppe zu erschließen.


    Daraus leitet sich dann schnell wieder die Frage ab: Braucht es besondere Angebote an dieser Stelle? Die Ergebnisse der Forschung deuten darauf hin. Diese dann aber eben nicht wieder in „Sonderstrukturen“ umzudeuten oder dort sogar zu erbringen, das ist die Herausforderung…


    Den vollständigen Bericht zum Forschungsvorhaben finden Interessierte übrigens hier auf der Projektwebseite!

  • Mal ne Hypothese: Vielleicht sind sie auch so "dankbar", einen richtigen Arbeitsplatz gefunden zu haben, dass sie sich möglichst unauffällig verhalten, also auch keine Fortbildungen oder Freistellungen beantragen... Das wäre bei der Sozialisation, die viele durchlaufen haben bzw. mussten, nicht ungewöhnlich. Und ja, es braucht bestimmt auch passgenauere Angebote. Und es braucht auch ein stärkeres Bewusstsein, und das lässt sich ja stärken: Ihr habt die gleichen Rechte wie alle anderen AN*innen! Nehmt sie auch wahr.

  • ...ja, das kann ich mir auch sehr gut vorstellen, daß die Erfahrungen der Beschäftigten, deren Sozialisation im "Hilfesystem" und auch Ängste davor, Forderungen zu stellen, mit dazu beitragen, dass so wenige Fort- und Weiterbildungsangebote genutzt werden.

    Ich bin neugierig, welche Vorschläge auch hier im Forum dazu gemacht werden: Wie gelingt es uns, die Zielgruppe zu stärken? Wie könnten passgenauere Angebote aussehen, was könnte es konkret sein? Und wie erreichen wir die Adressaten?

    Im wesentlichen ist es natürlich in der Verantwortung der Agentur für Arbeit, solche Angebote zur beruflichen Aus- und Weiterbildung zur fördern und pauschal sind die Fragen sicher kaum zu beantworten, aber der Markt ist eröffnet und alle Vorschläge und Ideen sind willkommen... :)

  • Die biografischen Erfahrungen von WfbM-Beschäftigten, denen ein Förderbedarf geistige Entwicklung etc. attestiert wurde, sind hochgradig vorstrukturiert. Sie gehen zumeist aus der Förderschule in eine WfbM über und haben kaum Möglichkeiten, Erfahrungen im ersten Ausbildungsmarkt zu machen. Wie die empirischen Befunde der Befragung von WfbM-Beschäftigten verdeutlichen, werden die Bildungsaspirationen junger Menschen im Laufe ihrer Sozialisation in der Werkstatt abgekühlt. Förderschüler:innen stammen häufig aus sozial nicht-privilegierten Familien, die teils über ein relativ geringes soziales Kapital, das heißt belastbare Beziehungen, verfügen, die bei der Suche nach Ausbilungsplätzen oder Alternativen zu segregierenden Angeboten hilfreich wären. Reha-Berater:innen der Bundesagentur für Arbeit betrachten segregierende Angebote bzw. Sonderinstitutionen häufig als geeignete Maßnahme. Bereits in der Förderschule absolvieren viele junge Menschen Praktika in einer WfbM. Im Berufsbildungsbereich einer WfbM können sie keine anerkannten Abschlüsse erwerben, wodurch sich deren strukturelle Benachteiligung verfestigt. Ohne Erfahrungen im allgemeinen Ausbildungsmarkt bzw. Arbeitsmarkt sind Beschäftigte von WfbM eher zurückhaltend, dorthin zu wechseln. Die geringen Übergangsmöglichkeiten hängen hochgradig von den Ressourcen der jeweiligen WfbM und dem Verhältnis zu den Fachkräften ab.


    Neben einer strukturellen Reform des Bildungswesens - noch immer wird eine Mehrheit der Schüler:innen mit sonderpägagogischen Förderbedarf in Förderschulen unterrichtet - bedarf es eines Strategiewechsels von der institutionellen Förderung zu unterstützten Beschäftigungen. Hierfür müssen unter anderem Erfahrungsräume bereitgestellt werden, die mit Handlungsalternativen verknüpft sind. Zuvorderst sollte die Berufsbildung aus der WfbM zugunsten inklusiver und möglichst dualer beruflicher Ausbildung herausgelöst werden.

  • Lieber Herr Stache, eine interessante Lektüre, die ich mir gestern in der Sonne gegönnt habe!

    Sie bestätigt meinen (leider immer wieder unerhörten) Appell, dass es darum geht, dass junge Menschen mit Behinderung gar nicht erst ins WfbM-System "eintauchen". Für mich ein Kernsatz: "Insgesamt verdeutlichen die Aussagen der Beschäftigten, dass ein großer Teil von ihnen nicht selbst die Entscheidung zum Übergang in die WfbM getroffen hatte. Vielmehr wurde diese zentrale biografische Weichenstellung durch Lehrkräfte, Fachkräfte der BA oder nahe Angehörige vorgenommen. Selbstbestimmte Berufswahl auf der Grundlage eigener Erfahrungen, dem Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten sowie die eigenen Kompetenzen erfolgt in der Regel nicht. Da ihnen die Möglichkeit beruflicher Erfahrung vorenthalten und die Positionen zugewiesen werden, betrachten sie sich nur eingeschränkt als aktiv Handelnde ihrer beruflichen Biografie."

    Da deckt sich mit meinen Beratungs-Erfahrungen und leider auch mit meinen Lebenserfahrungen als Mutter eines Sohnes mit Behinderung: Als es zum ersten Mal in der Schule (inklusiv) um Beruf ging, durften die Regelschüler sich einen Beruf aussuchen, recherchieren und schreiben, warum ihnen der gefällt. Mein Sohn bekam von der Sonderpädagogin ein Blatt mit Bildchen: Gartenhelfer, Helfer im Lager, Helfer in der Küche, Helfer im Altenheim. Damit sollte er sich beschäftigen. Er wollte nichts davon und kam zum Schluss: Berufe sind scheiße! Das wirkt bis heute nach...

  • Auch ich danke Herrn Stache für seinen gut lesbaren und fundierten Beitrag.

    Folgende Sätze habe ich herausgegriffen:

    "Bildungsmaßnahmen in WfbM sind nicht im Berufsbildungsgesetz geregelt. Im BBB erworbene Qualifikationen werden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht anerkannt, was der Einschätzung der Werkstattleitungen entspricht, die mit der Ausgestaltung des Berufsbildungsbereichs nicht zufrieden sind. Sie plädieren dafür, zukünftig akkreditierte Hilfskraftberufe und Fachpraktiker*innenberufe auszubilden."

    Die Systematik des Werkstattrechts behindert die Wirksamkeit des Budgets für Ausbildung nach § 61a SGB IX. Um in die Werkstatt zu gelangen, muss die Erwerbsunfähigkeit bzw. fehlende Ausbildungsfähigkeit festgestellt werden. Ein paar Monate später soll diese Feststellung dann von der BA schon wieder revidiert werden, um ein Budget für Ausbildung aus dem Berufsbildungsbereich heraus in Anspruch zu nehmen. Das ist schlicht nicht praxistauglich.

    Außerdem ist kein WfbM-Träger gehindert, einen Beschäftigten aus dem Berufsbildungs- oder Arbeitsbereich herauszunehmen und mit ihm ein reguläres Ausbildungs- bzw. Fachpraktikerausbildungsverhältnis zu schließen. Dann erhält er als Arbeitgeber die regulären Förderungen der BA. Verschiedentlich gehen WfbM-Träger diesen Weg. Sie verschließen sich damit aber für diese Personen den Zugang zu den WfbM-Leistungen der BA sowie der Träger der Eingliederungshilfe.

    Und schließlich gibt es auch jetzt schon, allerdings deutschlandweit von IHK zu IHK unterschiedlich, die Möglichkeit von zertifizierten Qualifizierungsbausteinen. Diese sind für die Personen gedacht, für die eine Fachpraktikerausbildung nach § 66 BBiG noch zu schwer ist.

    Möglich ist demnach manches, einiges wird schon umgesetzt, in der Summe kommt eher wenig an.