Zeitpunkt der Wiedereingliederung: „Nicht zu früh – nicht zu spät“

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    Diskutieren möchten wir mit Ihnen in diesem Diskussionspfad den Zeitpunkt für eine Wiedereingliederung. Studien belegen, dass die Reintegrationschancen maßgeblich vom Zeitpunkt abhängen. Diese liegen nach 6 Monaten nur noch bei 50 %, nach einem Jahr bei 20 % und nach 2 Jahren nur noch bei 10 % (Bundearbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Perspektiven des Wandels in der Rehabilitation, 10, 32).

    • Doch wann ist ein guter Zeitpunkt zur Einleitung von Maßnahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements?
    • Bzw. wie schaffen es Akteure, dass sich Beschäftigte während ihrer Arbeitsunfähigkeit möglichst frühzeitig auf ein BEM einlassen können?
  • Darüber wurde unter den Personalräten und Schwerbehindertenvertretungen im schulischen Bereich viel diskutiert. Bei Tumorerkrankungen, die mit existenzieller Bedrohunung und langandauernden Thearapien verbunden sind, trifft das schriftliche BEM- Angebot des Arbeitgebers nicht selten auf einen erkrankten Menschen, der zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen Sinn für dieses Angebot hat.

    Manche Kollegen fühlen sich gar bedroht.

    Daher ist es umso wichtiger, dass die betrieblichen Interessenvertretungen ebenfalls Kontakt zu den Erkrankten aufnehmen und über eine Annnahme " zu einem späteren Zeitpunkt " beraten und im individuellen Gespräch mögliche Ängste vor einem BEM nehmen.

    Kontakt ist hier übrigens ein " Zauberwort".

    Auch die Abteilungsleiter, Schulleiter, Dienstvorgesetzten sollten nicht vergessen, gut überlegt und wohl dosiert den Kontakt zum erkrankten Mitarbeiter halten. Das kann enorme Auswirkungen auf den Genesungsprozess haben und Beschäftigte motivieren, die Wiedereingliederung zum medinzinisch frühstmöglichen Zeitpunkt zu beginnen.

    Demgegenüber fällt es Beschäftigten, nach deren Befinden sich nicht erkundigt wurde, oft schwerer, sich auf die alte Beschäftigungsituation wieder "einzulassen". Es fehlt einfach das Gefühl, gebraucht zu werden.

    Dass es dann immer schwieriger wird, in den Beruf zurückzukommen, je länger der zeitliche ( auch der damit der örtliche und mentale) Abstand andauert, zeigen auch unsere Erfahrungen ganz deutlich.

  • • Doch wann ist ein guter Zeitpunkt zur Einleitung von Maßnahmen des Eingliederungsmanagements?
    • Bzw. wie schaffen es Akteure, dass sich Beschäftigte während ihrer Arbeitsunfähigkeit möglichst frühzeitig auf ein BEM einlassen können?

    Ziel des betrieblichen Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ments ist „frühzeitige Klärung“, ob und welche Maß­nah­men zu ergreifen sind – um eine möglichst dauerhafte Fort­set­zung des Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis­ses zu fördern laut

    • BVerwG, 23.06.2010, 6 P 8.09, Rn. 66;

    • BAG, 30.09.2010, 2 AZR 88/09, Rn. 34


    Folgende BEM-„Betriebsvereinbarung“ in einem Betrieb der Luft- und Raumfahrtforschung halte ich daher für unvereinbar mit dem BEM-Zweck, zitiert von dem LAG München 24.11.2010, 11 TaBV 48/10 = § 5 Abs. 7 BV:

    „Das Anschreiben ist nicht an die Privatadresse des betroffenen Mitarbeiters zu senden.“ (Rn. 25)


    Denn das läuft darauf hinaus, dass BEM während der Arbeitsunfähigkeit nicht angeboten werden dürfe laut dieser Betriebsvereinbarung an die Forscher.

  • Bzw. wie schaffen es Akteure, dass sich Beschäftigte während ihrer Arbeitsunfähigkeit möglichst frühzeitig auf ein BEM einlassen können?

    Viel zu pauschal und daher abzulehnen die Empfehlung von Dr. Maximilian Baßlsperger, 02.07.2012, in seinem BLOG wie folgt:


    Fragen und Antworten zur Betrieblichen Eingliederung:

    Wann muss sich der Dienstherr / Arbeitgeber an den Beschäftigten wenden?


    „Hier spielt zunächst die „Sechs-Wochen-Frist“ die entscheidende Rolle. Es fragt sich jedoch, ob der Dienstherr / Arbeitgeber bereits während der Arbeitsunfähigkeit mit dem Beschäftigten in Verbindung treten soll / darf, um später ein „BEM“ einzuleiten. Eine solche Kontaktaufnahme ist zwar nicht ausdrücklich verboten, sie wird aber auch nicht empfohlen. Es ist in der Regel völlig ausreichend, wenn der Arbeitgeber / Dienstherr eine Kontaktaufnahme nach Rückkehr des Beschäftigten vornimmt. Im Einzelfall – etwa bei Krankheiten nach Unfällen oder bei entsprechenden Äußerungen des Beschäftigten – ist eine solche Kontaktaufnahme auch schon vorher möglich.“


    Der Ausgangspunkt von Baßlsperger erscheint völlig daneben: Es ist zwar richtig, dass nicht verboten. Er blendet aber aus, wonach frühzeitiger Kontakt und Klärung geboten laut Gesetzesmaterialien und der ständigen Rechtsprechung.

  • Bzw. wie schaffen es Akteure, dass sich Beschäftigte während ihrer Arbeitsunfähigkeit möglichst frühzeitig auf ein BEM einlassen können?

    Prof. Dr. Petri meint in den Eckpunkten 11.3 von 2016, dass ggf. halbjährliche Mitteilungen an PR ausreichend seien, bei wem die BEM-Voraussetzungen vorliegen:

    „Die namentliche Information der Personalvertretung hat "regelmäßig" zu erfolgen. Das Bundesverwaltungsgericht geht hier von einem flexiblen Zeitrahmen aus und hält insoweit eine Mitteilung "in regelmäßigen Abständen, mindestens halbjährlich" für ausreichend.“


    BEM-Fälle erst nach 6 Monaten zu ermitteln - das ist in aller Regel bei einem präventiven Verfahren wie dem BEM ein Widerspruch in sich. Einen solchen Rechtssatz kann ich insbesondere nicht den „Gründen“ des BVerwG, 04.09.2012, 6 P 5.11, entnehmen entgegen „Auslegung“ von Petri – und ist m.E. daher klar abzulehnen – weil regelmäßig viel zu spät. Bedenken? Wie ist die Praxis? Was ist von dieser höchst exklusiven Unterstellung bzw. „kreativen“ Auslegung von Petri zu halten?


    Das BVerwG, 04.09.2012 – 6 P 5.11 – hat im Tenor ledig­lich das zugesprochen („mindestens halbjährlich“), was beantragt wurde. Daran war BVerWG prozessrechtlich gebunden, da es natürlich nicht mehr zusprechen durfte, als in dem recht ungeschickten Klageantrag stand nach dem in § 88 VwGO (bzw. § 308 ZPO) enthaltenen römisch-rechtlichen Grundsatz »ne ultra petita«


    Jedenfalls widerspricht diese der Ansicht des BMAS („frühzeitig Kontakt“), des DBB („frühzeitig geklärt“), der BIH und z. B. des ZBFS („frühzeitig handeln“) diametral. Ich kenne es nicht anders, dass monatlich (aktuelle) BEM-Listen an die Interessenvertretungen verschickt werden (und gerade nicht nur halbjährlich lediglich 2x im Jahr!)

  • Wann ein guter Zeitpunkt der Wiedereingliederung ist, hat den Gesetzgeber bei der Stufenweisen Wiedereingliederung ebenfalls beschäftigt. Erst im Jahr 2019 wurde § 74 SGB V durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) um 2 neue Sätze ergänzt:

    "Spätestens ab einer Dauer der Arbeitsunfähigkeit von sechs Wochen hat die ärztliche Feststellung nach Satz 1 regelmäßig mit der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit zu erfolgen. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in seinen Richtlinien nach § 92 bis zum 30. November 2019 das Verfahren zur regelmäßigen Feststellung über eine stufenweise Wiedereingliederung nach Satz 2 fest."

    Mit dieser Verpflichtung von Ärztinnen und Ärzte soll die Stufenweise Weidereingliederung durch eine verbesserte Prozessgestaltung gestärkt werden. Lt. Gesetzgeber soll gewährleistet werden, dass Versicherte, für die das Verfahren der stufenweisen Wiedereingliederung geeignet ist, auch tatsächlich von einer solchen Maßnahme profitieren können." (BT-Drs. 19/6337, 97). Dies ist ein Ausgangspunkt, um eine möglichst frühzeitige Stufenweise Weidereingliederung zu initiieren.

  • Mit der zuvor genannten Gesetzesergänzung in § 74 SGB V ist ein genereller Gleichklang mit den 6 Wochen im Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX hergestellt worden. Zu einem entsprechenden Angebot ist der Arbeitgeber verpflichtet, wenn Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als 6 ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind. Diese Zeitspanne ist daher auch maßgebend, wenn es um ein wiederholtes BEM geht. Das hat das Bundesarbeitsarbeitsgericht in seiner Grundsatzentscheidung BAG vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21, dazu Kohte juris-PR ArbR 14/2022 Anm. 5, noch einmal bestätigt.

  • Den richtigen Zeitpunkt für eine (stufenweise) Wiedereingliederung gibt es nur für den jeweils aktuellen Fall – und auch hier meine ich die Fallkonstellation aus Beschäftigtem und Betrieb. So sind eben nicht nur erkrankungs- und personenbezogene Faktoren auf Beschäftigtenseite (was kann, möchte der Betroffene… à individuelle Passung) entscheidend, sondern auch ob und wie auf der betrieblichen Seite Anforderungen flexibel angepasst werden (können) (à betriebliche Passung). Daher ist (fortbestehender) Kontakt und der bereits angesprochene gemeinsame Such-/Abstimmungsprozess so wichtig (denn das eine wird vom anderen beeinflusst und letztlich braucht es für eine erfolgreiche Wiedereingliederung beides: individuelle und betriebliche Passung).

    Ferner sollten aus meiner Sicht Krankheitsbewältigung und Wiedereingliederung nicht als getrennte und zwingend nacheinander einzuleitende Prozesse verstanden werden. Krankheitsbewältigung heißt in vielen Fällen auch, mit veränderten (eingeschränkten) Möglichkeiten und Fähigkeiten klar zu kommen und in das eigene Selbstbild zu integrieren. Eine gut vorbereitete, begleitete und flexible Wiedereingliederung (die fortlaufend angepasst werden kann), kann die Krankheitsbewältigung und Neuausrichtung der eigenen Identität unterstützen. Dies wird in qualitativen Studien zum Return to Work bei chronischen Erkrankungen immer wieder beschrieben – auch im Sinne einer Rückkehr zur „Normalität“.

  • Die Beschäftigten wählen den für sie "richtigen Zeitpunkt" aus. Der Arbeitgeber hat hier nichts auszuwählen und muss daher auf jeden Fall nach 6 Wochen das Einladungsschreiben herausschicken und zeitgleich die Interessenvertretungen darüber informieren, so dass sie die Beschäftigten zeitnah beraten können. Eine ganz kurzfristige stW hat sich selten bewährt; vor allem ist es wichtig, die geänderte Arbeitszeit und einen möglicherweise geänderten Rhythmus, z.B. zuerst nur 2 Tage in der Woche mit jeweils 4-5 Stunden, zu klären. Wenn Vertrauen zu den Interessenvertretungen besteht, ist zuerst eine interne Beratung wichtig, damit dann der ärztliche Eingliederungsplan erstellt werden kann.

    Bei Tumorerkrankungen verschiebt sich alles, aber es ist für die Betroffenen wichtig, dass sie die Zuversicht haben/gewinnen, dass eine Beschäftigung im bisherigen Betrieb grundsätzlich machbar ist. Das fördert auch die Heilungslräfte und -energien.

  • Beidem stimme ich voll zu. Primär muss es nach den Bedürfnissen der erkrankten Kollegen gehen, aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Möglichkeiten und Gegenbenheiten des Betriebes ebenfalls mitgedacht werden solten. Sonst können sich mglw. Konflikte ergeben, v.a. auf der persönlichen Ebene, die dem Prozess der Wiedeingliederung auch nicht gut tun. Wenn auch der Arbeitgeber erkennt, dass er einen Vorteil hat von der WE, unterstützt er besser.