Ausbildung? Für alle? Ein Träumchen...

  • "Alle Menschen haben das Recht auf freie Berufsausübung, und dieses beginnt mit der Berufswegewahl. Diskussionen über die Umsetzung einer inklusiven Arbeitswelt müssen die Ausbildung junger Menschen mit Behinderungen einschließen."

    So steht es in der Ankündigung der Diskussion.

    Vielen jungen Menschen mit einer kognitiven Behinderung (und ich rede nicht von einer "leichten" Lern-Schwäche, die wir nur im schulischen Kontext als "Behinderung" definieren) ist der Weg in eine Ausbildung (wenige Ausnahmen! zB das zukunftsweisende Projekt in Köln von mittendrin e.V.) versperrt. Das hat viele Gründe - so dass es viele Stellschrauben zu drehen gilt:

    - So mache Sonderschule "geistige Entwicklung" sieht ihre einzige Aufgabe darin, die jungen Leute auf ihre Zukunft in der WfbM "vorzubereiten".

    - Die Agentur testet früh und schnell und kommt zu schnell und zu oft zum Ergebnis "nicht erwerbsfähig".

    - Praktiker-Ausbildungen gibt es nicht in allen Berufen, meist nur in Sonder-Berufsbildungswerken und, was die Anforderungen angeht, für viele nicht zu schaffen. "Unterhalb" dieser theorie-reduzierten Ausbildungen gibt es nichts. Sprich: Mensch mit "geistiger" Behinderung muss eigentlich schon alles können, wenn er auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten will. Er muss "angelernt" werden, was aber dann komplett die Betriebe schultern sollen. Die sind manchmal willig, aber letztlich auch hilflos: Warum heftet ein junger Mann wochenlang alles korrekt ab und lässt dann ab Woche 5 immer genau EIN BLATT aus einer Akte draußen???

    - Praktika in der Schulzeit sind oft nicht zielführend (sehr beliebt ist das Praktikum in der WfbM und der Schüler-Firma, weil man nix gefunden hat, oder beim Betrieb X, der immer gerne Schüler nimmt, aber dann nie einstellt) oder schlecht begleitet oder einfach zu kurz: Wer langsamer lernt als andere, braucht oft auch länger im Betrieb, um zu zeigen, was er kann.

    - Arbeitsassistenzen werden nicht gewährt, weil (Standard-Argumentation) der "Kernbereich der Arbeit" angeblich nicht selbständig ausgeführt werden kann.

    Das sind nur ein paar Beispiele und Problemfelder. Es gibt noch mehr...

  • Probleme fangen an, wenn von einem Menschen etwas erwartet wird, was er nicht erfüllen kann. Solange es Normvorstellungen von Menschen gibt, bei "Menschen mit Beeinträchtigungen" die Defizitwahrnehmung im Fokus liegt und "die Behinderung" als Problem gesehen wird, wird man dem individuellen Menschen nicht gerecht und er gerät in die Sackgasse der Aussonderung.

    Menschen müssen in ihrem Sosein akzeptiert werden, um den Blick auf ihre besonderen Fähigkeiten richten zu können. Es ist zunächst die Aufgabe von Eltern, Erziehern und Lehrern, Kinder und Jugendliche zu unterstützen und zu befähigen, inmitten der Gesellschaft ihren Platz finden.

    Dazu gehört auch die Entwicklung von beruflichen Perspektiven, um nach der Schule zu wissen, wie der eigene Lebensweg weitergehen könnte. Das geht nicht theoretisch sondern muss praktisch erprobt werden, um Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. Es ist zunächst die gemeinsame Aufgabe von Eltern und Lehrern für einen besonderen Menschen einen geeigneten Praktikumsort zu finden, der an seinen Interessen ansetzt, und ihn dort so zu unterstützen, dass vor allem Potentiale sichtbar werden aber auch Schwierigkeiten deutlich werden, die es in einem zweiten, dritten, vierten, ... Praktikum zu fördern oder zu vermeiden gilt. Es ist ein notwendiges "Learning by doing" im echten Arbeitsleben, damit der Schüler am Ende seiner Schulzeit weiß, wie sein Lebensweg weitergehen soll.

    Wenn inklusives Lernen, Arbeiten und Leben die Ziele sind, die nicht nur auf dem Papier stehen sollen, können Eltern und Lehrer nicht auf wünschenswerte Rahmenbedingungen warten. Sie müssen mit den in ihrer jeweiligen Region derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst früh anfangen, die Schulzeit als Vorbereitungszeit für das Leben und Arbeiten nach der Schule zu nutzen.

    Für Praktika während der Schulzeit braucht es drei Dinge: den Schüler, der gerne arbeiten und etwas ausprobieren möchte, den Arbeitsort, der geeignet scheint und dies zulässt, und die Unterstützungsperson, die dieses Lernen im Betrieb unterstützend begleiten kann. Das muss eine Vertrauensperson für den Menschen mit Beeinträchtigung sein, die sich zum einen in einem Betrieb zurechtfindet und Ideen entwickelt, was der Mensch an diesem konkreten Arbeitsort machen könnte. Es gibt in jedem Betrieb Dinge, die bisher liegenbleiben sind, Teilarbeiten, die jemand übernehmen könnte, oder auch Arbeiten, die schön wären, wenn es jemanden gäbe, der sie machen würde. Umdenken und Kreativität sind gefragt.

    Diese praktischen betrieblichen Erfahrungen brauchen Schüler, Eltern und Lehrer, um am Ende der Schulzeit zu wissen, was dieser Mensch kann, was seine spezifischen Fähigkeiten sind und in welchem Betrieb er sein berufliches Lernen vielleicht sogar fortsetzen könnte. Dieses konkrete Vorwissen ist notwendig, um mit dem dann zuständigen Leistungsträger, in der Regel ist das die Agentur für Arbeit, einen individuellen auf die Person zugeschnitten Weg der beruflichen Qualifizierung mit der dazu notwendigen Unterstützung einschlagen zu können. Die während der Schulzeit gemachten Praxiserfahrungen sind weit aussagekräftiger und zielführender als medizinische oder psychologische Gutachten.

  • Für diese Art der Eingliederung benötigen Betriebe aber viel mehr Unterstützung, als Sie momentan bekommen. Wenn jemand gut eingearbeitet wird und der Betrieb dadurch dann Vorteile hat, dann glaube ich auch, dass es viel mehr Betriebe geben würde, die jungen Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen eine Chance geben. Hier braucht es personelle und u.U. auch finanzielle "Anschub"-Unterstützung. Und, wie Frau Thielicke richtig sagt, müssen die Stärken noch viel mehr herausgearbeitet werden, damit die Jugendlichen auch in der Arbeit glücklich sind, weil sie selber merken, dass sie etwas schaffen können.

    Es ist aber auch sehr wichtig, dass wir hier nicht verallgemeinern. Es gibt nicht DEN EINEN Jugendlichen mit Behinderung oder Beeinträchtigung. Eltern und Lehrer müssen hier individuell auf die Bedürfnisse schauen. Manche Jugendlichen mit Behinderung schaffen sehr viel und wollen auch mehr erreichen. Andere sind schnell überfordert und fühlen sich z.B. in einer WfbM wohl. Gerade die pädagogischen Fachkräfte müssen hier ein Auge darauf haben, ob Eltern vielleicht zu viel wollen. Ausprobieren auf jeden Fall, aber gut beobachten! Überforderung kann sich ja auch ganz unterschiedlich äußern...

    Aber auch für dieses Ausprobieren müssen die oben genannten Bedingungen geschaffen werden.

    Und noch ein anderes Thema: ja, es gibt einige Fachpraktiker-Berufe. Aber auch diese haben eine gewisse Anforderung, die nicht von allen Jugendlichen mit Beeinträchtigung oder Behinderung zu schaffen ist. Instrumente, die noch viel mehr in den Vordergrund rücken sollten und mehr an Bedeutung gewinnen sollten, sind die Qualifzierungsbausteine und die Teilqualifizierungen, die momentan entwickelt werden. So können auch Teil-Bausteine einer Ausbildung anerkannt/zertifiziert werden. Wenn so etwas z.B. auch Bildungsträger vermittelt werden kann, kann man im Anschluss vielleicht auch leichter in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln.

  • hmmm... Ich habe jetzt schon zweimal hier im Forum gelesen, dass "Eltern zu viel wollen". Vielleicht will unsere Gesellschaft ZU WENIG? Weil sie Menschen mit einer kognitiven Einschränkung gar nicht auf der Rechnung hat und sich nicht vorstellen kann, dass "die" einen wichtigen Beitrag in unserer Welt leisten können (und wollen), auch in der Arbeitswelt...

  • Ich sehe auch, dass die Gesellschaft zu wenig ermöglicht. Aber die Gesellschaft sind wir alle - (betroffene) Jugendliche und Eltern, Lehrer, Betreuer und Mitschüler in den Schulen und Berufsschulen, Chefs, Vorgesetzte und Beschäftigte in den Unternehmen, Vorgesetzte und Beschäftigte in den Ämtern und Behörden, die (politischen und juristischen) Beteiligten an der Gesetzgebung und ihrer Umsetzung, Kammern und Verbände, begleitende und unterstützende Akteure der Sozialwirtschaft und der Zivilgesellschaft, ... Die Aufzählung ist noch lange nicht vollständig.

    Auch die Medien beeinflussen mit ihrer Berichterstattung, was wir (als Einzelne und als Gesellschaft) wissen, uns vorstellen können, für möglich halten.

    Ich finde, es braucht vor allem eine sichtbare Inklusion über die Schulzeit hinaus: Damit würden vor allem die betroffenen Jugendlichen und ihre Eltern breitere Zukunftsvisionen entwickeln sowie Identifikationspersonen und Vorbilder in der Berufsbild finden können. Das ist enorm wichtig für ihre eigene Lebensperspektive und Motivation, sich mit der eigenen Zukunft zu befassen. Gleichzeitig würde "die Gesellschaft" häufiger sehen/erfahren können, was alles möglich ist. Es würde u.a. auch sichtbarer werden, wo es schon gut läuft und wo es hakelt, Schnittstellen nicht ausreichend gut abgestimmt sind.

    Dazu braucht es u.a. auch eine mediale Präsenz von gelungener Inklusion, um Erfahrungen und Ideen breit zu streuen, zum Nachdenken anzuregen, Mitstreiter zu finden, sich zu vernetzen, ... Die Sichtbarmachung des sozialen und gesellschaftlichen Mehrwertes ist ebenso wichtig wie das Aufzeigen des individuellen Mehrwertes.

    Es braucht Ansprechpersonen in den Ämtern und Behörden sowie den Kammern und Verbänden für Schulen, Berufsschulen, Unternehmen (unabhängig ihrer Größe und Branche), die individuell (mit Blick auf die betroffenen Person), unternehmensspezifisch (mit Blick auf das interessierte Unternehmen) und praxisbezogen Auskunft geben können.

    Außerdem muss die Existenz dieser Ansprechpersonen breit gestreut und kontinuierlich aktualisiert sowie an sie erinnert werden. In unseren Forschungsprojekten erfahren wir immer wieder, dass - unabhängig vom Thema - Informationsmaterialien und Ansprechpersonen vorhanden sind, aber die Informationssuchenden sie nicht kennen oder nicht finden oder sich nicht mehr an sie erinnern.

  • Ich möchte Kirsten Ehrhardt zustimmen im Unbehagen darüber, dass öfter ein "Zuviel-Wollen" von Eltern als Hindernis für Teilhabe an Arbeit und Ausbildung genannt wird. Ein "Zuviel-Wollen" von Eltern kommt in allen Eltern-Gruppen dieser Gesellschaft vor, d.h. auch in Bezug auf Kinder ohne Behinderung. Das hindert uns als Gesellschaft aber nicht daran, den (nicht-behinderten) Kindern gangbare Wege der Qualifikation aufzuzeigen und ggf. zu bahnen. Bei jungen Menschen mit Behinderung - und insbesondere solchen mit sogenannter geistiger Behinderung - greift diese gesellschaftliche Ermutigung nicht.

    Fragen Sie in der Öffentlichkeit oder fragen Sie beim professionellen Bildung- und Betreuungspersonal: Fast ALLE halten im jeweils konkreten Fall die Integration in den Arbeitsmarkt für nicht möglich (gemessen an Kompetenzen, Leistungsfähigkeit, Resilienz) und auch nicht für wünschenswert (Unsicherheit, Schutzbedürfnis, Be-/Überlastung, Versorgung, Renten-Aussichten).

    Dieses Mindset, dass für die Zielgruppe in erster Linie Versorgung anzustreben ist, verhindert bisher auf breiter Front Fortschritte für die Teilhabe an Arbeit. Es fehlt durchweg an Ermutigung, den Weg in Arbeit überhaupt zu versuchen. Stattdessen muss ein solcher Weg von den Betroffenen und ihren Familien in den allermeisten Fällen gegen Beratung, Bürokratie und Widerstände durchgesetzt werden.

    Gegen diese Mentalität bräuchten wir sehr viel mehr Anschub in Form z.B. von Bewusstseinsbildung, kombiniert mit präzisen Aufträgen an das professionelle Personal (plus Unterstützung und Kontrolle) und (wirklich Teilhabe-orientiertem) Case-Management.

    Die inklusiven Beispiele, deren Wichtigkeit Frau Böttcher schildert, sind für die Bewusstseinsbildung überaus wichtig. Allerdings sind sie bisher zu aufwendig zu erkämpfen, als dass ihre Zahl eine kritische Schwelle überschreiten könnte, ab der sie nicht nur als Exotikum angesehen werden, sondern als gangbarer Weg für viele Menschen.