Beiträge von Urs Germann

    Und auch ein kurzer Input aus schweizerischer Sicht: Ich teile die Einschätzung voll und ganz. Auch in der Schweiz war – und ist – es so, dass viele Jugendliche, die eine Sonderschule abschliessen, ihre berufliche Ausbildung in einem Betrieb des zweiten Arbeitsmarkts absolvieren und dann nach Abschluss vielfach (wenn auch nicht zwingend) im gleichen oder einem ähnlichen Betrieb weiterarbeiten. Dabei entstehen Bildungs- und Arbeitsbiografien, die primär in separativen Settings verlaufen und mit einer «Pfadabhängigkeit» über das ganze Leben hinweg verbunden sein können. Dies ist umso mehr dann der Fall, wenn Arbeit und Wohnen in der gleichen Institution stattfinden. Die Hürden für Veränderungen und biografische Neuanfänge (wie sie heute zum «normalen» Leben gehören) werden dadurch erhöht. Leider gibt es (auch) hierzu keine Daten, die belastbare Aussagen erlauben.


    Positiv ist auf jeden Fall, dass man sich der Problematik mehr und mehr bewusst wird. Mit der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung, die auch für behinderungsbedingte Zusatzkosten im Zusammenhang mit der erstmaligen Ausbildung aufkommt, per Anfang 2023 wurde die Begleitung von Jugendlichen mit Gesundheitsproblemen verbessert und der Fokus ausdrücklich auf eine Ausbildung in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts gelegt. Eine Evaluation der getroffenen Massnahmen ist derzeit im Gang. Es gibt auch verschiedene Projekte, die das Ziel haben, die Begleitung und die Wahlmöglichkeiten von Jugendlichen bei der Berufswahl zu verbessern resp. zu erhöhen.


    Liebe Kolleg:innen,

    Und hier noch ein Hinweis zu Thema aus der Schweiz. Die Schweiz hat im Gegensatz zu andern Staaten keine Quoten-Tradition. Dies hängt, historisch gesehen, auch damit zusammen, dass das Land als nicht-kriegsführender Staat weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Aufgabe stand, eine grosse Zahl Kriegsversehrter zu unterstützen respektive in die Wirtschaft einzugliedern. Hinzu kommt die bis heute deutlich erkennbare Tradition einer liberalen Arbeitsmarktpolitik, die generell zurückhaltend mit regulatorischen Eingriffen ist und die Eigenverantwortung unterstreicht. Beschäftigungsquoten für Menschen mit Behinderungen wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder mal gefordert, das Anliegen fand jedoch nie eine politische Mehrheit. Die Wirksamkeit wurde dabei auch vonseiten der Behindertenorganisationen kontrovers beurteilt.

    Auch andere Anreizsysteme für Arbeitgebende gibt es derzeit nicht, abgesehen von Massnahmen zur Unterstützung der Eingliederung im Einzelfall (Arbeitsversuche, Lohnzuschüsse etc.). Einzelne Unternehmen setzen jedoch selbst Zielvorgaben; dies gilt besonders für die öffentliche Verwaltung. Die schweizerische Bundesverwaltung legt z.B. für die Periode 2024-2027 für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen einen strategischen Sollwert von 1,5-2,5% fest, wobei die Messkriterien allerdings eng definiert sind (und deshalb gerade Personen mit «unsichtbaren» Behinderungen schlecht erfassen dürften). Eine Übersicht über Unternehmen, die mit solchen Zielvorgaben arbeiten, gibt es leider nicht.