Beiträge von Sabine Böttcher

    Letztlich sollten wir auch die Beratungsstrukturen und die Haltungen in (Förder-)Schulen in den Blick nehmen. Der Bildungsplan sollte ab der Sekundarstufe auch für Schüler mit kognitiven Einschränkungen immer Wert auf Kompetenzen legen, die Teilhabe an Arbeit erleichtern. Ein Rückschrauben des Unterrichtsehrgeizes ("das braucht er/sie ohnehin nicht, weil er/sie mit Sicherheit in die Werkstattbeschäftigung gehen wird") sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Neben das Fördern sollte auch für diese Schüler*innen ein Fordern treten. Schüler*innen müssen (noch) mehr das Gefühl bekommen, dass man ihnen etwas zutraut.

    Das kann ich nur unterstreichen.

    Dies erfordert u.a. die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, die an den individuellen Bedarfen und Bedürfnissen der Schüler*innen ausgerichtet sind. Dazu bedarf es seitens des Lehr-, Betreuungs- und Integrationspersonal u.a. Zeitressourcen und die Freiheit, Ungewohntes/Neues zu versuchen und dabei auch zu irren, zu korrigieren und wieder loszugehen - eine offene, zugewandte Fehlerkultur, durchaus mit Erklärungen und Analysen, aber ohne Rechtfertigungsdruck, (Vor-)Verurteilungen und Beschuldigungen.

    Freiwilligendienste stellen aus meiner Sicht auch eine gute Möglichkeit für neurodivergente Jugendliche dar, Berufspraxis zu erfahren und sich in einem interessierenden Berufsfeld auszuprobieren. Der Bundesfreiwilligendienst dabei mehr als das Freiwillige soziale Jahr, weil das BFD nicht mit 40 Wochenstunden absolviert werden muss.

    Wir haben hier eine sehr gute und individuelle Beratung durch die Caritas erlebt sowie Offenheit und Zugewandtheit bei der Einrichtung (ein Schulhort).

    Die von Frau Popp betonte wichtige Stellung von Schulen und Kindergärten möchte ich unterstreichen.

    Meine Erfahrung ist, dass in Kindergärten und Schulen die Sensibilität für besondere Bedarfe von Kindern und Jugendlichen sehr gestiegen ist und hier auch eine durchaus gute und sensible, zugewandte Elternarbeit stattfindet. Eltern werden angeregt und unterstützt, z.T. auch begleitet bei der Kontaktierung und Diagnostik in Sozialpädiatrischen Zentren, bei Kinder- und Jugendpsychiatrien, -psychotherapeuten/-psychiatern, Autismusambulanzen, ...

    Häufig schließt sich aber keine Diagnostik, sondern ein monatelanges Warten auf einen ersten Vorstellungstermin an. Im hiesigen SPZ betragen die aktuellen Wartedauern 14 Monate... Viel zu viel Zeit für Kinder oder Jugendliche mit Unterstützungs- oder Förderbedarf! Auch hier bedarf es mehr Angebote, mehr Personal und vielleicht auch kürzere Verfahren.

    Aus meiner Sicht ist dies besonders dramatisch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen und deren Familien, da die medizinische Diagnose leider fast immer die Voraussetzung für eine Schulbegleitung oder Nachteilsausgleiche darstellt.

    Ich sehe auch, dass die Gesellschaft zu wenig ermöglicht. Aber die Gesellschaft sind wir alle - (betroffene) Jugendliche und Eltern, Lehrer, Betreuer und Mitschüler in den Schulen und Berufsschulen, Chefs, Vorgesetzte und Beschäftigte in den Unternehmen, Vorgesetzte und Beschäftigte in den Ämtern und Behörden, die (politischen und juristischen) Beteiligten an der Gesetzgebung und ihrer Umsetzung, Kammern und Verbände, begleitende und unterstützende Akteure der Sozialwirtschaft und der Zivilgesellschaft, ... Die Aufzählung ist noch lange nicht vollständig.

    Auch die Medien beeinflussen mit ihrer Berichterstattung, was wir (als Einzelne und als Gesellschaft) wissen, uns vorstellen können, für möglich halten.


    Ich finde, es braucht vor allem eine sichtbare Inklusion über die Schulzeit hinaus: Damit würden vor allem die betroffenen Jugendlichen und ihre Eltern breitere Zukunftsvisionen entwickeln sowie Identifikationspersonen und Vorbilder in der Berufsbild finden können. Das ist enorm wichtig für ihre eigene Lebensperspektive und Motivation, sich mit der eigenen Zukunft zu befassen. Gleichzeitig würde "die Gesellschaft" häufiger sehen/erfahren können, was alles möglich ist. Es würde u.a. auch sichtbarer werden, wo es schon gut läuft und wo es hakelt, Schnittstellen nicht ausreichend gut abgestimmt sind.


    Dazu braucht es u.a. auch eine mediale Präsenz von gelungener Inklusion, um Erfahrungen und Ideen breit zu streuen, zum Nachdenken anzuregen, Mitstreiter zu finden, sich zu vernetzen, ... Die Sichtbarmachung des sozialen und gesellschaftlichen Mehrwertes ist ebenso wichtig wie das Aufzeigen des individuellen Mehrwertes.


    Es braucht Ansprechpersonen in den Ämtern und Behörden sowie den Kammern und Verbänden für Schulen, Berufsschulen, Unternehmen (unabhängig ihrer Größe und Branche), die individuell (mit Blick auf die betroffenen Person), unternehmensspezifisch (mit Blick auf das interessierte Unternehmen) und praxisbezogen Auskunft geben können.

    Außerdem muss die Existenz dieser Ansprechpersonen breit gestreut und kontinuierlich aktualisiert sowie an sie erinnert werden. In unseren Forschungsprojekten erfahren wir immer wieder, dass - unabhängig vom Thema - Informationsmaterialien und Ansprechpersonen vorhanden sind, aber die Informationssuchenden sie nicht kennen oder nicht finden oder sich nicht mehr an sie erinnern.

    Aus meiner Sicht fehlt es an Angeboten - egal ob in digitalen oder analogen Medien oder in Präsenz bzw. Praxis, mit denen sich Jugendliche mit Beeinträchtigungen und Behinderungen identifizieren können. Sichtbare Inklusion endet zu häufig mit der Schulzeit.

    Inklusive Beispiele aus der Arbeitswelt, Erwachsene mit Beeinträchtigungen und Behinderungen könn(t)en eine große Vorbildwirkung entfalten und Identifikationspotenzial bieten. Doch wo sind diese Erwachsenen?

    Kinder und Jugendliche entwickeln ihre Berufswünsche doch auch aus der Identifikation mit Vorbildern, denen sie sich verbunden fühlen oder mit denen sie sich identifizieren können, weil sie ihnen ähnlich sind. Aus meiner Sicht fehlt dies für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen und Behinderungen.

    Es braucht fachlich und sozial kompetente, offene und zugewandte Menschen in den beteiligten Behörden, die oftmals allein durch ihre Position einen entscheidenden Einfluss auf das Wirken und Entscheiden von Eltern und betroffenen Jugendlichen ausüben.

    Es ist mindestens sehr irritierend, wenn die Einschätzung der möglichen Fachlichkeit von Jugendlichen mit Neurodivergenz sich an veralteten und falschen Stereotypen, (Vor-)Urteilen und Zuschreibungen von Fähigkeiten bzw. dem Abschreiben von potenziellen Kompetenzen orientiert und auf dieser Grundlage Berufswahlempfehlungen getroffen werden.


    Es braucht die Bereitschaft zur Suche nach der oftmals höchst individuellen Lösung, wenn Einschätzungen und Empfehlungen den betroffenen (jungen) Menschen gerecht werden sollen. Die Empfehlung für ein Berufsbildungswerk, welches mit dem Wohnen in einem Internat gekoppelt ist, passt nicht für alle betroffenen Jugendlichen und dies auch dann nicht, wenn die Ausbildenden mit Neurodivergenz vertraut sind.


    Ebenso braucht es eine Beratungsstruktur oder eine Art Lotsen für Eltern, um sich in diesem Feld und den unterschiedlichen Zuständigkeiten der Ämter/Behörden in Abhängigkeit von der Art der Ausbildung (duale Ausbildung, schulische Ausbildung) zurecht zu finden. Ein solchen Beratungsangebot könnte auch online unterbreitet werden.

    Berufspraktika sind gerade für Jugendliche mit Neurodivergenz von besonderer Wichtigkeit und gleichzeitig sehr rar bzw. nur mit viel Aufwand zu finden. Außerdem stellen sie für die Jugendlichen eine Ausnahmesituation dar, ein Abweichen vom Gewohnten, Bekannten. Das verunsichert und schafft zusätzliches Konfliktpotenzial. Hier kann Schulbegleitung ansetzen und somit auch bei Berufspraktika eine große Unterstützung sein, auf vielfältigen Wegen und Formen, z.B.:


    1) Sie kann sie z.B. als Übersetzer zwischen Mitarbeitende des Unternehmen und der bzw. dem Jugendlichen fungieren. Viele Jugendliche mit Neurodivergenz, z.B. bei Asperger-Autismus, haben ein wortwörtliches Sprachverständnis. Unsere Sprache ist häufig mehrdeutig und das ist uns zu oft nicht (ausreichend) bewusst. Menschen mit Neurodivergenz verstehen dann nicht selten etwas, was nicht gemeint war und handeln nachfolgend nicht nachvollziehbar oder unverständlich.


    2) Sie kann vermittelnde und auf-/erklärende Funktionen erfüllen. Arbeits- und Handlungsweisen, aber auch Erklärungen sind oft mehrschrittig. Menschen mit Neurodivergenz werden durch zu viele Schritte schnell überfordert und verlieren den Überblick, da ihre Wahrnehmung, Aufnahme und Speicherung von Informationen anders erfolgt. Hier z.B. zu erklären, dass nur zwei, maximal drei Schritte aufgenommen und verarbeitet werden können, kann Wunder helfen.


    3) Sie kann den Jugendlichen mit Neurodivergenz als emotionale Stütze während des Praktikums dienen. Die nicht Vorhersehbarkeit dessen, was die Jugendlichen erwartet, verunsichert sie - und dass durchaus so stark, dass sie sich kaum auf die neue Situation einlassen können und in eine nicht gewollte Abwehrhaltung gehen, um sich selbst nicht zu verlieren. Das läuft unbewusst ab. Eine gute Schulbegleitung kennt solche Situationen aus dem Schulalltag und kann ggf. auch erprobte Lösungsansätze zurückgreifen und einen Konflikt, ein Weglaufen, ein "Zumachen" - einen Meltdown oder einen Shutdown verhindern.


    4) Sie kann Informationen an Eltern weitergeben, wozu der Jugendliche aufgrund der ungewohnten, neuen Situation noch nicht in der Lage ist und damit auch die Eltern zur Unterstützung und Stabilisierung mitnehmen.


    Leider ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Schulbegleitung auch außerhalb des reinen Schulunterrichts wirken darf. Hier besteht m.E. ein großer Handlungsbedarf, gleichzeitig liegt darin aber auch eine große Chance für die Jugendlichen, ihre (inneren) Bilder eines Berufes mit ihren Handlungsmöglichkeiten und -grenzen austesten zu können. Und natürlich bedarf es einer ehrlichen Rückmeldung aus dem Unternehmen und einem zurückhaltenden Handeln durch die Schulbegleitung.


    Wir hatten diese Chance und mein Sohn hat verschiedene, z.T. durch seinen Schulbegleiter unterstützte Berufspraktika durchführen können. Das sind für ihn äußerst wertwolle und wichtige Erfahrungen, die seinen Berufswunsch stark beeinflusst haben.