Ja. Es ist oft die Rede davon, dass Anpassungsleistungen beidseitig zu erfolgen haben, womit das Thema Inklusion am Arbeitsmarkt damit abgekürzt behandelt wird. Das greift aber zu kurz. Manche Dinge, wie eine erhöhte Reizempfindlichkeit - stärker als das was man gemeinhin abtut mit "das hab ich aber auch, das ist nicht neurodivergent" - lassen sich nicht ändern. Es gehört auch Akzeptanz dessen dazu, was man nicht versteht.
Beiträge von NDFachberater
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(Aus meiner Gruppe)
Bisher erweckt das Thema Neurodivergenz am Arbeitsplatz oftmals den Eindruck, das die Mehrheit an Arbeitnehmer sich in ihrem Charakter und ihrer Arbeitsweise einschränken oder anpassen müssten, damit neurodivergente Menschen gut arbeiten können. Ich finde, dies wird der Sache nicht gerecht.Ich beziehe mich hier auf die Ergebnisse einer Umfrage von StepStone vom November 2024 *1
Nach dieser wünschen sich die Befragten:
- einfachere Prozesse (58%)
- klarere Kommunikation (46%)
- Schulungs- und Entwicklungsmöglichkeiten (30%)
- bessere Technologien (25%)
Dies lässt sich auf die notwendigen Anpassungen eines Arbeitsplatzes auf die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen übertragen.
- Regelmäßige, kurze Arbeitsunterbrechungen helfen, sich besser zu konzentrieren.
- Störungsfreie Tätigkeiten auch technisch entsprechend zu gestalten fördert den Fokus.
- Klare Kompetenzverteilungen und Aufgaben helfen, eigenständig zu arbeiten und entlasten auch Vorgesetzte.
- SMARTE Zielsetzungen helfen, Missverständnisse zu vermeiden und erleichtern die Einstieg in die jeweilige Aufgabe
- zuverlässige und gut konzipierte Technik unterstützt Arbeitsprozesse, vermeidet Fehler und kann sich wiederholende Tätigkeiten eigenständig erledigen - dies setzt Ressourcen frei um die Teilprozesse zu bearbeiten, die davon abweichen.
Um hier aus meiner eigenen Erfahrung zu sprechen:
Ich habe meine Bedürfnisse begründet und klar kommuniziert. Zumindest im Bereich meiner Aufgaben werden diese oft berücksichtigt. Meine Kolleg:Innen geben mir das Feedback, dass die Rücksicht darauf auch ihren Arbeitsalltag verbessert.
Beispiele:
- Meetings dauern nicht länger als 90 Minuten.
- Es gibt eine mindestens 24 Stunden vorher kommunizierte Agenda
- Nach einem kurzen Check-in beim Meeting wird diese Agenda durchgegangen. (Check in: Wie geht es mir? Was erwarte ich heute vom Meeting?)
- Bei Tätigkeiten, die eine hohe Konzentration erfordern, nutzt man bei Messengern und Co den Status "DND" und leitete seine Anrufe um. Hierfür nutzen wir eine Hotline, die ankommende Anrufe verteilt.
- An unseren Türen gibt es "DND" Schilder
- jeder Mitarbeiter kann ein Headset mit Active Noise Cancelling bestellen.
Letztlich ist eine klare Kommunikation der Schlüssel zum Erfolg. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus, sich mit den eigenen Bedürfnissen und denen anderer zu befassen und daraus einen Konsens zu bilden.
*1: https://www.thestepstonegroup.…ssary-tasks-and-meetings/
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Berufspraktika sind gerade für [...]
*Daumen hoch*
Die Mehrdeutigkeit neurotypischer Aussagen ist definitiv ein Faktor für Missverständnisse wobei betont werden sollte, dass es da auch Ebenen gibt, die von neurotypischen Menschen kaum bewusst gesteuert werden können, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle laufen (also nicht offenkundig *böse*, *traurig*, *freudig* sind). Das verkompliziert das Ganze. Deswegen ist Aufklärung wichtig, um nicht automatisch eine Absicht hinter ein Missverständnis zu projizieren.
Eine Schulbegleitung sollte definitiv außerhalb des Schulunterrichts wirken dürfen. Stichwort "verzögerte Informationsverarbeitung". Wenn die Emotion unterhalb eines Erlebens erst 5 Stunden später bei der Betroffenen Person zu wirken beginnt, ist der/die Schulbegleiterin schon im Feierabend oder beim nächsten Klienten. Sofern außerhalb der Schule auch Assistenzkräfte tätig sind ist eine enge Verzahnung notwendig. -
Häufig (aber nicht immer) kommt es beim Übergang von der Grund- auf die weiterführenden Schulen zu ersten Problemen. Während neurodivergente Kinder in der Grundschule wegen ihrer innovativen Denkweise zumeist noch als etwas "Besonderes" mit einer großen beruflichen Zukunft gesehen werden kommt es auf den weiterführenden Schulen zu einem neuen Arbeitsstil, der nicht von zirkulärer, sondern kausaler Denkweise geprägt ist. Diese Denkweise wird letztlich auch im Arbeitsleben gepflegt. Ich schließe hier an meinen Beitrag unter dem anderen Topic an. Anpassungsleistungen sind von beiden Seiten erforderlich. Aber: Man kann aus einem Kolibri keinen Elefanten machen. Die Anpassungsleistung der Betroffenen, welche sie im Umgang mit einem Umfeld, dass nicht für sie gemacht ist ständig erbringen müssen ist ENORM kräfteraubend. Betroffene sollten wissen, wie die Welt funktioniert - da kann Psychoedukation helfen. Und damit kann man in der Schule schonmal anfangen. Aber dann sollten die Betroffenen selbst entscheiden - und der Arbeitgeber sollte mitspielen. Was man in der Schule nicht vergessen darf ist, den Betroffenen, die mit aller größter Wahrscheinlichkeit auf der weiterführenden Schule brutalstes Mobbing erleben werden zu helfen, die Schulzeit überhaupt einmal zu überstehen. Also das ist dann auch wichtig. Als emotionales Wrack kommt man auch nicht sanft auf dem Arbeitsmarkt an. Und ja, ich schreibe mit breiter Querschnittserfahrung.
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Vorab: Tolles Thema. Und notwendig. Danke dafür !
Vorerst einmal wäre es wichtig, dass Verständnis von Neurodivergenz bei allen Beteiligten auf den aktuellsten, realen Stand zu bringen. Sprechen wir von Autismus, haben wir viel zu oft dass Vollbild einer Erkrankung mit schwersten Auswirkungen vor dem inneren Auge. Dies ist dem ICD-10 geschuldet (und seinen Vorversionen), welche noch in Kanner-Autismus, Atypischer Autismus, Asperger unterschieden. Wir gehen aber heute von einem Spektrum aus, zu dem übrigens auch eine hohe Überschneidung zu ADHS vorliegt (bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger). Früher ein gegenseitiges Ausschlusskriterium, heute zwei Seiten einer Medaille. Denken wir gleichwohl über ADHS als Einzeldiagnose haben wir das Bild von Schulkindern vor dem Auge, die nicht still sitzen können. Es ist aber so viel mehr. Motorische Probleme, ein hohes Gerechtigkeitsbewusstsein, ein intensives Beziehungsverhalten, ein hohes Vorkommnis von LGTBQ+ - Anteilen etc. Die autistischen Anteile können sich wiederum unter anderem in einem beständigen inneren Monolog äußern, in einer pragmatischen, problemlösungsorientierten unbedingten Loyalität gegenüber ihren nahestehenden Menschen (meistens nur eine Person).
Das Spektrum ist sehr divers, zentrale Symptome sind aber bei allen gleich. Spätdiagnostizierte Menschen sind oftmals mit durchschnittlicher-überdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattet, was mit Nichten dazu führt, dass sie es im Leben leichter haben. Weil sie normal intelligent sind, wird ihnen gegenüber ihren Handlungen eine Intention unterstellt, nach dem Motto: "Er/Sie ist doch schlau, warum bekommt er/sie es nicht hin? Er/Sie muss sein Verhalten dementsprechend mit Absicht ausüben." Also wäre es gut, den Betroffenen einfach mal zu glauben, was sie äußern. Menschen mit Neurodivergenz können sowieso in den seltensten Fällen lügen. Das, mit jedem Respekt, ist eher das Ding der anderen "Seite". Wenn man aber bei einem Arzt als erstes hört: "Sie können Augenkontakt halten, also sind Sie kein Autist.", invalidiert (verneint) das nicht nur das eigene Erleben (was traumatische Qualität annehmen kann), sondern verhindert durch die nicht erteilte Diagnose auch den Zugang zu Unterstützungsmaßnahmen wobei alles (!) was in der Impulsfrage steht sowieso entfällt, weil auch Sachbearbeiter der Betroffenen Person natürlich weniger glauben als einem Arztbericht.
Woher kommt das? Das kommt davon, dass beide Seiten die Wahrnehmung der anderen Seite nicht nachvollziehen können. Das ist erstmal weder schlecht noch gut, hat aber Folgen. Neurotypische Menschen kommunizieren grundlegend mit einer Fülle an verbalen Signalen die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle einer neurodiversen Person ablaufen. Neurodiverse Menschen hören das nicht. Punkt. Schulz von Thun kann man hier vergessen. Neurodiverse Menschen handeln als Folge von reden, neurotypische Menschen reden größtenteils als Vertretung von Handeln und um ihre Beziehung zueinander zu klären. Neurodiverse Menschen denken eher zirkulär, Neurotypische Menschen kausaler. Es nicht möglich für den jeweils anderen sich das vorzustellen. Deswegen wäre es wichtig, die eigene Vorstellungskraft beiseite zu schieben und um Gottes Willen erstmal zu akzeptieren, dass es für die andere "Seite" so ist.
Neurodivergente Mädchen fallen in der Schule weniger auf, weil sie zurückgezogener sind und eher "typisch" weibliche Eigenschaften repräsentieren. Jungs sind eher laut und unangenehm und bekommen dann wenn sie die Schule verlassen vielleicht die Borderline-Fehldiagnose (und noch so manch andere wundervolle Annahme, die in den folgenden Jahren definiert, wie man über sich selbst denkt). Wir haben Annahmen über andere Menschen. Jede Annahme ist aber ein Vorurteil. Diese Vorurteile müssen weg. Das verlangt Arbeit, aber nur so kann man die Betroffenen unterstützen (und natürlich muss auch diesen bewusst sein, dass das Großteil der Menschen anders funktioniert als sie).
Ich habe in einem Verfahren mit einer erwachsenen autistischen Person die Situation, dass der Leistungserbringer seit Jahren darauf besteht, dass nur die Umschulung zum IT-Fachmann den Klienten beruflich erfüllen wird. Aber drei mal dürfen Sie raten; auch dort arbeiten Menschen mit denen man sich verstehen muss. Und noch ein viertes mal dürfen Sie raten; eine der häufigsten Berufsgruppen für neurodivergente Menschen ist: Sozialarbeiter. Huch. Das passt ja gar nicht zu dem was man in seinem Medizin-Malbuch auf der Uni gelesen hat. Also. Erst wenn man sich der Fülle des Spektrums bewusst ist, der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede und die Betroffenen als Experten in eigener Sache akzeptiert, kann man solche Menschen auch gut im Arbeitsmarkt integrieren. Um es mit dem Chef von Auticon zu sagen: Ein Autist kann in jedem Beruf arbeiten, wenn das berufliche Umfeld auf ihn eingestellt / angepasst ist.
vG
Rudolf Bede (Fachperson und selbst Betroffener)