Beiträge von Eva-Maria Thoms

    Letztlich sollten wir auch die Beratungsstrukturen und die Haltungen in (Förder-)Schulen in den Blick nehmen. Der Bildungsplan sollte ab der Sekundarstufe auch für Schüler mit kognitiven Einschränkungen immer Wert auf Kompetenzen legen, die Teilhabe an Arbeit erleichtern. Ein Rückschrauben des Unterrichtsehrgeizes ("das braucht er/sie ohnehin nicht, weil er/sie mit Sicherheit in die Werkstattbeschäftigung gehen wird") sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Neben das Fördern sollte auch für diese Schüler*innen ein Fordern treten. Schüler*innen müssen (noch) mehr das Gefühl bekommen, dass man ihnen etwas zutraut.

    Einstiegsqualifizierungen bieten eine gute Möglichkeit, die Zeit bis zur Vollausbildung sinnvoll zu gestalten. Sie ist aber nicht nur für Menschen da, die nicht auf einen Ausbildungsplatz vermittelt werden konnten, sondern insbesondere auch für ...

    • Ausbildungssuchende, die noch nicht in vollem Umfang über die erforderliche Ausbildungsbefähigung verfügen
    • Lernbeeinträchtigte und sozial benachteiligte Ausbildungssuchende
    • Menschen mit Behinderung zur Vorbereitung auf eine Ausbildung nach den Ausbildungsregelungen des §66 BBiG oder des §42r HwO

    Die Einstiegsqualifizierung erfolgt in der Regel in Vollzeit. Sie kann aber auch ohne zusätzliche Begründung in Teilzeit absolviert werden.

    Junge Menschen mit Unterstützungsbedarf können bereits während der Einstiegsqualifizierung durch die Assistierte Ausbildung gefördert werden. Den Betrieben und Teilnehmenden einer Einstiegsqualifizierung entstehen hierdurch keine Kosten.

    Handwerkskammern informieren hier auf ihren Webseiten, z.B. Einstiegsqualifizierung (EQ): Die Brücke in die Berufsausbildung

    Die Einstiegsqualifizierung ist aber doch nur in Vollausbildungen möglich, also nicht in Fachpraktiker-Ausbildungen, oder bin ich da falsch informiert?

    Die ReZA ist DAS Hindernis für die Verbreitung von Fachpraktiker-Ausbildungen auf dem Arbeitsmarkt und DER Grund, warum diese Ausbildungen weit weit überwiegend außerbetrieblich stattfinden. Das macht die Praxis der Fachpraktiker-Ausbildung tatsächlich zu einem systemfremden Element in unserem Berufsausbildungssystem. Ich erinnere mich, dass außerbetriebliche Ausbildungen (nicht nur im Reha-Bereich) in den 80er Jahren ausdrücklich als Notnagel aufgebaut wurden, weil wir einen erheblichen Mangel an Ausbildungsplätzen hatten. Dabei war immer klar: Die betriebliche Ausbildung muss Vorrang haben, weil sie erfolgreicher bei der Integration in den Arbeitsmarkt ist - durch Lernen in der Praxis und den "Klebeeffekt", die die außerbetriebliche Ausbildung nicht per se bietet und die junge Menschen mit Behinderung sogar noch dringlicher bräuchten als andere.

    Insofern ist es sehr nachteilig für junge Menschen mit Behinderung, dass es bisher nicht gelungen ist, die ReZA-Pflicht abzuschaffen.


    Wir machen in unserem Ausbildungsprojekt die Erfahrung

    - dass den meisten Betrieben nicht bekannt ist, dass der unterstützende Träger die ReZA beisteuern kann (wird in unserem Projekt für unseren unterstützenden Träger von der Kammer so akzeptiert),

    - dass es mit Unterstützung durch einen Träger nicht notwendig ist, dass ein Ausbildungsbetrieb selbst über besondere Kenntnisse verfügen müsste. Gutes Jobcoaching führt dazu, dass Ausbilder und Kollegen sich einarbeiten, wie die Zusammenarbeit mit dem Azubi mit Behinderung gut funktioniert,

    - dass Kammern die Betriebe zu Fachpraktiker-Ausbildungen ermutigen können, dass aber selbst gut gemeinte Beratung auch das Gegenteil bewirken kann. Wir haben erlebt, dass Betriebe nach einer Beratung von ihrer Ausbildungsabsicht abgerückt sind. Die Beratung hatte offenbar so einprägsam besondere Bedürfnisse der Azubis mit Behinderung und besondere Fürsorgepflicht für diese Azubis betont, dass die Aufgabe die man sich vor der Beratung zugetraut hat, nun zu groß erschien.

    Bei aller unbestritten notwendigen Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse: Man kann - auch in bester Absicht - die Latte so hoch legen, dass niemand mehr drüber kommt. Das ist aus meiner Sicht durchaus ein Grundproblem, warum wir mit der Inklusion nicht vorankommen.

    Sicherlich wären an einigen Stellen gesetzliche Verbesserungen möglich. Aus unserer Erfahrung wäre die z.B. die Einschränkung einer Arbeitsassistenz auf Arbeitsstellen mit mindestens 15 Stunden Arbeitszeit. Dies betrifft z.B. Arbeitsnehmer*innen mit Behinderung, die mehrere Teilzeitstellen haben, oder es betrifft Menschen mit Behinderung, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erst aufbauen, dies wird durch die Bestimmung der Mindestarbeitszeit behindert. Probleme mit der Bewilligung von Assistenz haben verstärkt auch Menschen mit Behinderung in selbständigen Tätigkeiten.

    Hier machen wir derzeit interessante Beobachtungen im künstlerischen Bereich. In Köln wird modellhaft eine Schauspielausbildung für Werkstattberechtigte betrieben. Analog gibt es die Idee, auch eine Tanzausbildung anzubieten. Bei beiden Vorhaben stoßen die Initiatoren auf folgendes Problem: Sie wollen die werkstattberechtigten Menschen für Engagements auf dem künstlerischen Arbeitsmarkt ausbilden. Sie können diese Engagements als bezahlte Tätigkeiten jedoch nicht annehmen, weil sie kein Honorar einnehmen bzw. dies mit anderen Leistungen verrechnen müssten. Ganz aus dem Werkstattrahmen auszusteigen und sich vollständig auf den volatilen künstlerischen Arbeitsmarkt zu verlassen, ist für den Personenkreis jedoch auch nicht möglich, jedenfalls nicht zu Beginn. Sollten wir also wert darauf legen, dass auch werkstattberechtigte Menschen die Möglichkeit haben sich eine künstlerische Berufstätigkeit aufzubauen, müssten hier Regelungen entworfen werden, wie dies gelingen kann.


    Gegen die z.T. sehr langen Bearbeitungszeiten von Anträgen auf Teilhabe würde die Ausweitung der Genehmigungsfiktion nach § 18 (3) SGB IX auf alle Bereiche der Eingliederungshilfe helfen können.


    Abgesehen davon denke ich: Wir haben inzwischen ein gesetzliches Instrumentarium, mit dem wir sehr viel mehr Teilhabe an Arbeit realisieren könnten, als uns aktuell gelingt. Das Hauptproblem sind nicht fehlende Gesetze, sondern die zähe, restriktive, bürokratische Umsetzung.

    Ich möchte Kirsten Ehrhardt zustimmen im Unbehagen darüber, dass öfter ein "Zuviel-Wollen" von Eltern als Hindernis für Teilhabe an Arbeit und Ausbildung genannt wird. Ein "Zuviel-Wollen" von Eltern kommt in allen Eltern-Gruppen dieser Gesellschaft vor, d.h. auch in Bezug auf Kinder ohne Behinderung. Das hindert uns als Gesellschaft aber nicht daran, den (nicht-behinderten) Kindern gangbare Wege der Qualifikation aufzuzeigen und ggf. zu bahnen. Bei jungen Menschen mit Behinderung - und insbesondere solchen mit sogenannter geistiger Behinderung - greift diese gesellschaftliche Ermutigung nicht.

    Fragen Sie in der Öffentlichkeit oder fragen Sie beim professionellen Bildung- und Betreuungspersonal: Fast ALLE halten im jeweils konkreten Fall die Integration in den Arbeitsmarkt für nicht möglich (gemessen an Kompetenzen, Leistungsfähigkeit, Resilienz) und auch nicht für wünschenswert (Unsicherheit, Schutzbedürfnis, Be-/Überlastung, Versorgung, Renten-Aussichten).


    Dieses Mindset, dass für die Zielgruppe in erster Linie Versorgung anzustreben ist, verhindert bisher auf breiter Front Fortschritte für die Teilhabe an Arbeit. Es fehlt durchweg an Ermutigung, den Weg in Arbeit überhaupt zu versuchen. Stattdessen muss ein solcher Weg von den Betroffenen und ihren Familien in den allermeisten Fällen gegen Beratung, Bürokratie und Widerstände durchgesetzt werden.

    Gegen diese Mentalität bräuchten wir sehr viel mehr Anschub in Form z.B. von Bewusstseinsbildung, kombiniert mit präzisen Aufträgen an das professionelle Personal (plus Unterstützung und Kontrolle) und (wirklich Teilhabe-orientiertem) Case-Management.

    Die inklusiven Beispiele, deren Wichtigkeit Frau Böttcher schildert, sind für die Bewusstseinsbildung überaus wichtig. Allerdings sind sie bisher zu aufwendig zu erkämpfen, als dass ihre Zahl eine kritische Schwelle überschreiten könnte, ab der sie nicht nur als Exotikum angesehen werden, sondern als gangbarer Weg für viele Menschen.

    Schüler*innen mit kognitiven Einschränkungen machen viel zu wenig/viel zu selten Schülerpraktika in Betrieben des Arbeitsmarktes. Allerdings fehlt es für Schülerpraktika von Schüler*innen mit Behinderung auch an der Möglichkeit, sie im Betrieb durch ein Jobcoaching zu begleiten. Dies führt dazu, dass stattfindende Praktika wenig Erfolg haben oder dass die Schulen zu betrieblichen Praktika gar nicht ermutigen, weil sie diese ohne Jobcoaching nicht für zielführend halten. Im Ergebnis finden Praktika oft nicht betrieblich statt, sondern in der WfbM.


    Für die Förderung einer solchen fachkundigen Begleitung sieht sich derzeit nach unserer Information keines der beteiligten Systeme zuständig:

    - Die Arbeitsagentur fördert nicht im Zusammenhang "Schule".

    - Das System Schule kennt keine Finanzierung für Jobcoaching.

    - Das System Eingliederungshilfe kennt im Bereich Schule nur das Instrument Schulbegleitung. Deren Einsatz in einem betrieblichen Praktikum scheint in der Praxis nicht durchgängig möglich zu sein. Darüberhinaus ist Schulbegleitung nicht (unbedingt) kompetent, im Sinne eines Jobcoachings zu begleiten.

    - Die Integrationsfachdienste scheinen nicht immer einbezogen bzw. haben nicht genug Ressourcen, Praktika standardmäßig durch Jobcoaching zu begleiten.


    Interessant wären Beispiele, in denen es gelingt, Schülerpraktika der Zielgruppe durch Jobcoaching auf Basis einer nachhaltigen Finanzierung zu unterstützen.