Beiträge von Daniel Kreutz

    Ist nicht der Arbeitsmarkt, den wir kennen, eine hochgradig selektive Veranstaltung? Gilt nicht auf allen Ebenen das Prinzip der "Bestenauslese" - wohlgemerkt: beim Zugang zum Menschenrecht auf Arbeit (Art. 23 Abs. 1 UN-Charta)? Wer vom Jobcenter (Hartz IV) kommt, hat deutlich schlechtere Karten als der/die von der Arbeitsagentur (SGB III). Geringere Qualifikation? Vermittlungshemmnis. Behinderung? Vermittlungshemmnis. Über 50? Vermittlungshemmnis. Usw. usf. Kann ein hochgradig selektiver Markt mit ein paar Reförmchen "inklusiv" werden? Bedarf es nicht struktureller Veränderungen?


    Zudem: Streng genommen ist der (Arbeits-)Markt nur der Ort, an dem Waren (Arbeitskräfte) gehandelt werden. Wer sich da in der Rolle des Ladenhüters wiederfindet, ist zwar "am Markt", aber das nützt ihm/ihr ebenso wenig wie vielen Langzeitarbeitslosen ohne Behinderung. Geht es beim "inklusiven Arbeitsmarkt" nicht tatsächlich um ein inklusives Beschäftigungssystem? Und muss dazu nicht das Prinzip der (ökonomischen) "Bestenauslese" ordnungspolitisch zurückgedrängt werden? So dass sich reelle, gleichgestellte Zugänge zum Menschenrecht auch für all diejenigen finden, deren "Wettbewerbsfähigkeit" eingeschränkt ist? Was sagen die in Mode befindlichen "best practice"-Beispiel von hochmotivierten LeistungsträgerInnen mit Behinderung denen, die nach Maßstäben wirtschaftlicher Verwertbarkeit tatsächlich stärker eingeschränkt sind?


    Immerhin: Das Schwerbehindertenrecht stellt mit seiner Beschäftigungspflicht und -quote von jeher schwerbehinderte ArbeitnehmerInnen von der Verpflichtung frei, sich im Wettbewerb um Einstellungen gegenüber nichtbehinderten KollegInnen durchsetzen zu müssen. Kann/muss dieser Ansatz vielleicht weitaus stärker zur Entfaltung gebracht und auch praktisch durchgesetzt werden? (Das in der Rechtswirklichkeit die "Pflicht" zur Beschäftigung massenhaft unbeachtet bleibt, zeigt der Vergleich der anhaltend übermäßig hohen Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter mit den "unbesetzten Pflichtplätzen".)
    Wenn der "inklusive Arbeitsmarkt" das Ziel sei soll, dann braucht es ein Verständnis dessen, worin der vorfindliche Arbeitsmarkt sich davon unterscheidet. Welche Selektionsmechanismen gibt es in wieweit und WIE zu überwinden, damit wir einem Arbeitsmarkt näher kommen, der für alle (nicht bloß für Arbeitgeber) funktioniert?


    Wer keine Vorstellung hat, wo das Ziel liegt, kann auch keinen Weg dorthin beschreiten. Bei der inklusiven Bildung hatten wir Jahrzehnte der Schulversuche, die zeigten, dass und wie es ginge (wenn man denn wollte). Auch dort geht es letztlich um die Überwindung eines selektiven Systems. Beim Arbeitsmarkt stehen wir da - so mein Eindruck - noch sehr am Anfang. Mit Fragen über Fragen...


    Vielen Dank und freundliche Grüße
    Daniel Kreutz
    (Vorsitzender Sozialpolitischer Ausschuss SoVD NRW)

    Bitte bedenken Sie: "Pflege ist Reha" - nach fachlichem Verständnis, allerdings nicht in der "verbetriebswirtschaftlichten" Realität des Pflegemarkts. Wenn wir "Reha in der Pflege" wollen, geht es weniger um neue Angebote und Leistungen als vielmehr um eine Personalausstattung bzw. einen Personaleinsatz von Pflegeeinrichtungen, die/der rehabilitative Pflege regelhaft ermöglicht. Wingenfeld/Schnabel stellten bereits 2001 fest - und dies wurde vom Landespflegeausschuss NRW konsentiert -, dass rehabilitative, "ressourcenfördende" Pflege (Unterstützung, Begleitung, Beaufsichtigung) erheblich zeitaufwändiger ist als die 'Abwicklung' von Alltagsverrichtungen am Menschen durch die Pflegekraft, und dass die Personalausstattung selbst bei überdurchschnittlich gut ausgestatteten Pflegeheimen nicht ausreicht, um "Reha in der Pflege" umzusetzen. Dennoch werden bis heute die Personalorientierungswerte aus alten BSHG-Zeiten vor Einführung des SGB XI oft unverändert fortgeschrieben (häufig in Personalrichtwerte nach § 75 SGB XI "überführt"), ungeachtet des seither erheblich veränderten Versorgungsbedarfs der betroffenen Menschen. Die Entwicklung einer vom tatsächlichen Versorgungsbedarf hergeleiteten Personalbedarfsbemessung - seit 1996 gesetzlich gefordert, aber wegen hinhaltenden Widerstands der Kostenträger nie umgesetzt - ist insoweit dringend nötig - und zwar bundeseinheitlich -, um dem Reha-Auftrag von Pflege (§§ 2.1, 28.4 SGB XI) entsprechen zu können.

    Mir geht es vorliegend nicht um (lösbare und im Rahmen des SGB XII (HzP) auch - wie (un)befriedigend auch immer - gelöste) Probleme der individuellen Leistungsbemessung, sondern um die Grundsatzfrage. Sowohl für Leistungen der Eingliederungshilfe als auch der Pflege gilt bislang der Grundsatz privater Kostentragung. Bei der Pflege werden die Betroffenen durch Zuschüsse der Pflegeversicherung darin unterstützt (ein Vorteil gegenüber der Eingliederungshilfe). Die häufig hohen "ungedeckten" Kosten lassen Betroffene vielfach dennoch in Fürsorgebedürftigkeit abrutschen - nur weil sie wegen ihrer Pflegebedürftigkeit eine besonders schwere Form von Behinderung (Teilhabebeeinträchtigung) aufweisen. Hier wie dort empfinde ich es als ungerecht, den Betroffenen selbst die Folgekosten ihrer Beeinträchtigung anzulasten, statt sie solidarisch zu tragen.


    Man bedenke: "Pflege ist Reha" (Pflege-Enquête des NRW-Landtags 2005) - oder sollte es zumindest sein. Und pflegerische Hilfe zur Bewältigung elementarer Alltagsverrichtungen ist für die Betroffenen die basale Voraussetzung, um an andere Arten sozialer (gemeinschaftlicher, gesellschaftlicher) Teilhabe überhaupt denken zu können.

    Dass diejenigen, die Zugang zur Pflegeberatung oder gar zum Fallmanagement finden konnten, das hilfreich fanden, ist normal. (Man stelle sich vor, sie hätten es als "nicht hilfreich" wahrgenommen!) Die Frage ist gleichwohl, in wieweit die 7a-Beratung der Kranken- und Pflegekassen (innerhalb oder außerhalb von Pflegestützpunkten) für die potenziellen Ratsuchenden zugänglich (bekannt, auffindbar, erreichbar) ist und ob sie das leistet, was die gesetzliche Regelung vorsieht. Ich stütze meine kritische Auffassung u. a. auf den Evaluationsbericht des GKV-Spitzenverbands vom Dezember 2011, der zahlreiche kritische Befunde beinhaltet, obwohl der Spitzenverband ja eher ein Interesse hat, die Leistungen seiner Mitglieder in möglichst gutem Licht erscheinen zu lassen. Art und Umfang der gesetzlich geforderten sozialrechtsübergreifenden (auch: SGB IX, XII, (Familien-)Pflegezeitgesetz) wurden darin allerdings nicht näher untersucht. In NRW weist die Landschaft der Pflegeberatung eine große "Vielfalt" (Leistungserbringer, Kassen, Kommunen, Verbraucherzentrale, privat-gewerbliche Anbieter) und ebenso große Unübersichtlichkeit auf. Pflegestützpunkte bestehen nur in etwa der Hälfte der Kreise/kreisfreien Städte. Man bräuchte "Ratgeber", um sich auf dem "Beratungsmarkt" zu orientieren - zusätzlich zu den Ratgebern, die der Orientierung auf dem Pflegemarkt dienen sollen. Am bekanntesten sind nach wie vor die Beratungsangebote von Leistungserbringern (GKV-SpV). Betroffene, die meist sehr rasch ein passendes Pflegearrangement benötigen, stehen hier vor Hürden - insbesondere, wenn es um komplexere Arrangements häuslicher Versorgung geht. Viele verlassen sich da lieber auf Hinweise anderer Betroffener aus ihrem Umfeld, als sich um ein "institutionalisiertes" Beratungsangebot zu bemühen.
    In wieweit die Beratung derzeit tatsächlich als Instrument "strategischer Kundensteuerung" genutzt wird, muss hier offen bleiben. Viele potenzielle Ratsuchende haben den Verdacht, dass ihre Bedürfnisse in der Beratung eher eine untergeordnete Rolle spielen (GKV-SpV). Bertelsmann-Stiftung und Prognos AG messen in ihrem (sparpolitischen) Konzept "regionaler Pflegebudgets) der Beratung jedenfalls eine "hohe" strategische Bedeutung zu.

    Bei der Eingliederungshilfe (EGH) sind sich die Verbände des Deutschen Behindertenrats einig: Die EGH muss raus aus dem Fürsorgerecht (SGB XII) und zu vorrangigem Leistungsrecht werden, damit Betroffene nicht länger gezwungen sind, durch vorrangigen Einsatz eigenen Einkommens und Vermögens zu verarmen, bevor ein öffentlicher Kostenträger für EGH-Leistungen eintritt. (Das triff etwa erwerbstätige schwerbehinderte Menschen, die auf persönliche Assistenz zur Alltagsbewältigung angewiesen sind; sie werden durch der Früchte ihrer Arbeit "enteignet" und damit gegenüber vergleicharen nicht behinderten Beschäftigten drastisch benachteiligt.)
    Ganz ähnlich bei der Hilfe zur Pflege (HzP) nach dem SGB XII. Auch hier ist zur Deckung von Pflegekosten vorrangig eigenes Einkommen und Vermögen einzusetzen (ggf. auch das unterhaltspflichtiger Angehöriger). Vor allem bei Heimunterbringung fallen monatlich hohe Kosten an, die von den Zuschüssen der "Teilkasko"-Pflegeversicherung nur sehr teilweise gedeckt werden, so dass bei "NormalrentnerInnen" der Einkommens- und Vermögensverzehr in der Regel rasch in pflegebedingte Armut und Sozialhilfeabhängigkeit führt. Auch hier werden Menschen um die Früchte ihrer Lebensleistung gebracht, nur weil sie durch Pflegebedürftigkeit behindert sind. (Pflegebedürftigkeit ist eine besonders schwere Form der Teilhabebeeintzrächtigung.)

    • Liegt hier nicht eine offenkundige Benachteiligung behinderter gegenüber nicht behinderten Menschen vor?
    • Können zur Deckung des Teilhabebedarfs erforderliche Kosten den Betroffenen selbst angelastet werden, statt sie durch die Gemeinschaft solidarisch zu tragen?
    • Muss also nicht auch die HzP aus dem Fürsorgerecht herausgelöst werden, indem die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung nach dem Beispiel der Krankenversicherung fortentwickelt wird, wie die Gewerkschaft ver.di es bereits fordert?

    Auch die Kommunen, die mit klammen Haushalten allenthalben über die hohen und demografisch bedingt steigenden Kosten der HzP klagen, würde es sicher freuen, wenn das Gründungsversprechen der Pflegeversicherung, pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit zu überwinden, auf diese Weise eingelöst würde.

    Aus meiner Sicht ist der "Mindestanspruch" durch die Wahrung der Menschen- und Grundrechte definiert. In der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 Teil des deutschen Rechts ist, sind die allgemeinen Menschenrechte für die behinderten Menschen konkretisiert. Und zu den behinderten Menschen zählen auch alle pflegebedürftigen Menschen (schon nach deutschem Sozialrecht; vgl. die Definitionen von Pflegebedürftigkeit und Behinderung in SGB XI und IX). Dieser "Mindestanspruch" (bzw. die entsprechenden vielfältigen "Mindestansprüche") ist allerdings wegen entgegenstehender rechtlicher und tatsächlicher Gegebenheiten häufig nicht durchsetzbar. Beispiel: Jeder Mensch hat das Recht auf eine geschützte Privat- und Intimsphäre. Wenn im Pflegeheim aber nur ein Platz im Doppelzimmer frei ist (oder wenn das Geld für den Einzelzimmerzuschlag fehlt), ist es damit schon Essig. Deutschland ist gefordert, umfassende Anpassungen zur Verwirklichung der in der Behindertenrechtskonvention definierten Menschenrechte vorzunehmen.

    Frau Grundtke schrieb: "Der Anspruch auf Pflegeberatung für Versicherte gesetzlich festgeschrieben." Ja - nur umgesetzt wird er höchst unzureichend. Das gilt insbesondere für den sozialrechtsübergreifenden Beratungsauftrag und den Fallmanagementauftrag der Beratung nach § 7 ba SGB XI. Und von einer flächendeckenden Verfügbarkeit von Pflegestützpunkten kann noch keine Rede sein. Problematisch ist auch, dass hier die Kranken- und Pflegekassen, also Kostenträger, Träger der Beratung sind; teils gleich im Zusammenwirken mit dem Sozialhilfeträger. Für die wirtschaftlichen Akteure am Pflegemarkt (Kostenträger und Leistungserbringer) kann Pflegeberatung auch ein Instrument "strategischer Kundensteuerung" sein. Damit Beratung ihrer "anwaltlichen" Funktion für die berechtigten Interessen und Bedürfnisse der Ratsuchenden ohne Gefahr sachfremder (wirtschaftlicher) Einflüsse nachkommen kann, sollte sie von Kostenträgern und Leistungserbringern gleichermaßen unabhängig organisiert sein.

    "Jegliche Pflege ... ist per Definition rehabilitativ." So definierte die NRW-Pflege-Enquête (2005) einvernehmlich das fachliche Pflegeverständnis, das auch in Formulierungen der §§ 2.1, 28.4 SGB XI aufscheint. Im ökonomisierten Versorgungsalltag kann dies jedoch kaum umgesetzt werden, weil rehabilitative Pflege erheblich zeitintensiver ist und deshalb mehr Personal erfordert als bloße "Ver-Sorgung". Immer noch herrscht ein Pflegeverständnis vor, wonach Pflege vor allem am Ende der Kette "Akutversorgung - (med.) Reha - Pflege" zum Tragen komme, wenn also Reha gleichsam am Ende ist. Um Reha zu erfahren, ist für Pflegebedürftige die "Reha innerhalb der Pflege" am Wichtigsten. Ihr Fehlen kann auch Erfolge gesonderter medizinischer Reha-Leistungen (SGB V) im Alltag wieder zunichte machen. Deshalb ist eine Abkehr von dem überkommenenen, sequenziellen Pflegeverständnis, das noch in der Überschrift des § 31 SGB XI "Vorrang der Rehabilitation vor Pflege" zum Ausdruck kommt, dringend erforderlich. Den Pflegeeinrichtungen muss das Personal finanziert werden, das für die Gewährleistung einer rehabilitativen Pflege im pflegerischen Alltag erforderlich ist.