Beiträge von Joachim Stork

    Liebe Kolleginnen und Kollegen des Forums,
    ja, die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung (GB) ist auch aus Sicht der betrieblichen Präventionspraxis die Achillesferse des Arbeitsschutzes. Auch wenn natürlich hierbei das übliche Spannungsverhältnis zwischen Anzahl / Frequenz der GF'en und ihrer Qualität existiert, so sehe ich in der betrieblichen Praxis eher andere Hemmnisse:
    1. Wir haben in Deutschland teilweise ein Akzeptanzdefizit des Arbeitsschutzes, besonders in vielen Kleinbetrieben: AS werde heute übertrieben, sei §-lastig, ein Thema von gestern... Trotz immer noch ungleich höherer Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz im Vergleich zur außerberuflichen Umwelt hält sich diese Sicht hartnäckig, auch außerhalb von Betrieben: Medieninteresse findet nahezu ausschließlich der Umweltschutz.
    2. Eine Überwachung der Einhaltung des ArbSchG - Aufgabe der Einzel-BG'en - findet in kleinen Betrieben de facto nicht statt: den technischen Aufsichtsdienst der gesetzlichen Unfallversicherung oder Vertreter der staatlichen Arbeitsschutzbehörden sieht man in Kleinbetrieben noch viel seltener als Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit, nämlich nach schweren Unfällen oder bei BK-Verdachtsmeldungen.
    3. Ähnlich hat die Dachevaluation der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie GDA im Rahmen von Stichproben gezeigt, dass nicht nur die betriebsärztliche Betreuung, sondern auch die Bestellung von Fachkräften für Arbeitssicherheit in Betrieben mit bis zu 10 Beschäftigten defizitär ist. Die Registrierung der Bestellung nach ASiG bzw. die Wahl alternativer Betreuungskonzepte ("Unternehmermodell") wurde seitens der DGUV-Landesverbände bereits vor Jahren eingestellt.
    4. Dort, wo der Arbeitsschutz und sein zentrales Instrument "GB" im Betrieb gut akzeptiert und etabliert ist, dominiert trotzdem noch oft ein eingeschränktes, "technokratisches" Verständnis des Arbeitsschutzes. Maßnahmen zur Erfassung von Gefährdungen und zum Schutz der psychischen Gesundheit von Beschäftigten treffen tendenziell auf Vorbehalte und sind eher die Ausnahme.


    Die Gründe für Letzteres sind vielfältig - bei näherem Interesse im Forum würde ich mich gerne hier dazu austauschen, kenne das Thema aus ärztlicher Sicht wie auch aus Sicht langjähriger betrieblicher Präventionspraxis.
    Im DVfR-Symposium in München wurde die Frage der Notwendigkeit einer Novelle des ASiG andiskutiert - und als ein möglicher Anlass wurden die o.g. Defizite bei der flächendeckenden Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung erwähnt. Ja, ein konsequentes Hinwirken und fachliches Beraten des Arbeitgebers zur GB gehört zu den wichtigsten arbeitsmedizinischen Aufgaben sowie zu den Aufgaben der Fachkräfte für Arbeitssicherheit. Bereits heute besteht die Möglichkeit, weitere Experten bei der präventiven Betreuung der Betriebe hinzuzuziehen (betriebsspezifische Betreuung) - das können Arbeitgeber entscheiden, die sich durch Betriebsarzt und Sicherheitsfachkraft ungenügend unterstützt fühlen. Den Vorschlag der DGUV, im Rahmen einer ASiG-Novelle andere - übrigens nicht vorrangig präventiv qualifizierte und orientierte - Disziplinen obligat an der Betreuung und Beratung nach dem ASiG zu beteiligen und dafür Teile der bereits heute oft marginalen arbeitsmedizinischen Einsatzzeiten vorzusehen, kann ich als Arbeitsmediziner nicht als sachgerecht akzeptieren - gut, das wird niemanden wundern.
    Aber dass diese Initiative der DGUV begleitet wird vom Werben für ein "DGUV-Zentrumsmodell", d.h. für ein Konzept zur Ausweitung BG-eigener Zentren für die Betreuung nach dem ASiG, sollte eine interdisziplinäre, auch juristische Diskussion verdienen: Bereits heute liegen neben der Unfallversicherung die untergesetzliche Regulation der Umsetzung des ASiG und die Überwachung BG-licher Vorgaben des Arbeitsschutzes in berufsgenossenschaftlicher Hand - in manchen Branchen betreibt man zusätzlich eigene arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Zentren, bildet technische Aufsichtspersonen zu Disability-Managern aus (keinesfalls fokussiert auf Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten), evaluiert das eigene Handeln mittels eigener Institute...
    Ich denke, dass ein Teil der Umsetzungsdefizite im Arbeits- und Gesundheitsschutz in Deutschland durch immanente Interessen- und Zielkonflikte der gesetzlichen Unfallversicherung erklärbar ist. "Alles aus einer Hand" - das wir haben das in München gehört - passt m.E. nicht in eine offene Gesellschaft und sollte hinterfragt werden. In der gesetzlichen Krankenversicherung hat man z.B. zur Vermeidung von Interessenkonflikten den Kostenträgern (GKV und PKV) nicht das Betreiben medizinischer Versorgungszentren ermöglicht.
    Eine konsequente Trennung historisch gewachsener Aufgaben eines Trägers wäre schwierig. Aber eine "Entlastung" der Unfallversicherung von der Regulation der Umsetzung des ASiG (heute: DGUV 2) und Übernahme dieser Aufgabe durch das staatliche Arbeitsschutzsystem wäre ein ordnungspolitisch überfälliger, einfach zu vollziehender Schritt...
    Was halten Sie davon?