Beiträge von Thomas Schmitt-Schäfer

    Lieber Herr Schmitt-Schäfer,
    ich stimme mit Ihnen zu dem folgenden Satz aus dem Gutachten nicht überein:
    "Ob die gewünscht ambulante Wohnform verhältnismäßig ist und unter den gesetzlichen Vorgaben möglich ist, ist meines Erachtens durch den Kostenträger zu prüfen."
    Unsere Tochter hat ein Wahlrecht. Es unterliegt nicht dem Kostenträger zu prüfen, ob sie ambulant wohnen kann.

    Liebe Frau Dr. Dartenne,


    das verstehe ich. Ich bin inhaltlich ja ganz bei Ihnen. Das Thema ist aber, zu welchen Themen ein Gutachter eine Aussage machen kann. Und die rechtliche Bewertung der Zumutbarkeit einer vom Willen der Antrag stellenden Person abweichenden Leistungserbringung ist Sache der Behörde, nicht des Gutachters. Wäre es der Gutachterauftrag gewesen, die Zumutbarkeit nach § 104 SGB IX zu prüfen, hätte er sich genau dazu äußern müssen. Das war aber offenbar nicht der Fall.
    Die Leistungsträger hat die Aufgabe zu überprüfen, welche Leistungen notwendig und geeignet sind, um einen bestehenden Bedarf zu decken. Hierbei hat er das Gebot der Wirtschaftlichkeit zu beachten. Das Ergebnis dieser Prüfung stellt er mit seinem Bescheid fest, die gerichtlich überprüft werden kann und ggfls. auch sollte.
    Diese Grundsätze haben Verfassungsrang und gelten auch in der Eingliederungshilfe. Allerdings wurden in diesem Rechtskreis mit § 104 SGB IX aus guten und nachvollziehbaren Gründen sehr weitgehende Rechte der antragstellenden bzw. leistungsberechtigten Personen verbrieft. Diese gilt es nun zu nutzen. Das tun sie und das ist auch gut so.

    Auch wir sind bereits mit dem Thema Mehrkostenvorbehalt traktiert worden. Ich zitiere aus einem Schriftstück aus Januar 2021: "Die Bewilligungssumme ist derzeit noch nicht aufgeführt, da noch keine abschließende Stellungnahme des Fachdienstes Gesundheit beim Landkreis XYZ und abschließende Entscheidung des XYZ Landessozialamt zur Festsetzung des Budgetbetrages unter Beachtung des Mehrkostenvorbehalt vorliegt."
    Das ist vor allem auch deshalb unverständlich, weil es keine Einrichtung gibt, die unserer Tochter einen Platz geben möchte (weil der Betreuungsaufwand 1:1 jeden Personalschlüssel, der in den Verbandsverträgen festgelegt wurde, kaputtmacht) und unsere Tochter noch nie in einer Einrichtung war. Selbst wenn also der Mehrkostenvorbehalt als Legitimation Bestand hätte, so dürfte er nicht herangezogen werden.
    Die Gesprächspartner der hiesigen Verwaltung spielen nun das Sandwich-Spiel (wir würden ja gern, aber das Landessozialamt möchte nicht).
    Da wir bisher keinen Kontakt zum Landessozialamt hatten, wird die hausinterne Informationsmacht missbraucht.
    Wir werden nun mit den Personen im Landessozialamt kommunizieren.

    ... und dies ist auch deswegen unverständlich, weil die Mehrkosten einer ambulanten Lösung nicht zu prüfen sind, wenn die stationäre Lösung nicht zumutbar ist --> § 104 SGB IX. Und die Zumutbarkeit ist als Erstes zu prüfen.

    Wir haben 2018 in den Modulhandbüchern (hier werden die wesentliche Inhalte der Lehrinhalte transparent dargestellt) deutscher Hochschulen und Universitäten nachgeschaut. Dabei wurde deutlich, dass die ICF oder das bio-psycho-soziale Modell bislang wohl noch nicht in ausreichendem Maße in der Lehre repräsentiert ist.Zwei Beispiele: In den Modulhandbüchern der Heilpädagogik findet sich dieser Inhalt häufig (über 90%), in der Sozialen Arbeit in weniger als 30% der Handbücher. Wir haben keine Analyse bei Studiengängen für Verwaltungsfachkräfte vorgenommen. Wahrscheinlich finden sich hierzu aber keine Inhalte zum bio-psycho-sozialen Modell.
    Es verändert sich etwas, aber selbstverständlich sind solche Inhalte bis heute nicht den akademischen Ausbildungsgängen.


    Danke für diesen wichtigen Hinweis aus der Praxis. Wir erwarten in Kürze die ersten Evaluationen aus dem Bereich der Bedarfsermittlung.Zum anderen ist mein Eindruck, dass die sozialgesetzlichen Vorgaben einfacher umgesetzt werden könnten, als dies bislang in manchen Sozialräumen der Fall ist. Es gibt Bedarfsermittlungsverfahren, die auch von den Fachkräften in der Teilhabeplanung als Barriere empfunden werden. Dies soll keine pauschale Kritik an bestimmten Verfahren sein; diese Einschätzungen habe ich von Teilhabeplaner*Innen persönlich gehört.
    Hier können uns zwei Dinge helfen:
    1. Forschung und
    2. (das kann und sollte mit 1. verknüpft sein) die stärkere Miteinbeziehung der Praktiker*innen in der Teilhabeplanung bei der Weitereintwicklung der Bedarfsermittlungsverfahren.

    und 3.) ... üben, üben, üben.
    und 4.) sich auf Neues einlassen und alt Gewohntes revidieren.


    Wir haben alle Bedarfsermittlungsinstrumente im ständigen Diskurs mit den Praktiker*innen entwickelt. Nicht alle Praktiker*innen wollen ihre Sicht der Dinge ändern und neue Methoden anwenden. Das aber ist verlangt.

    Hallo Frau Dr. Dartenne,


    ich kann die Inhalte des Gutachtens auch anders lesen. Der Gutachter hält eine ambulante Lösung für möglich, das ist schon mal eine wichtige Aussage. Er verweist zutreffend auf die Angemessenheit, also nach neuem Recht auf § 104 SGB IX, nach dem ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen ist, wenn - in ihrem Fall - die stationäre Einrichtung nicht zumutbar ist. Das sind doch eigentlich für ihre Tochter bzw. für Sie günstige Aussagen. Der Gutachter verweist m.E. auch zutreffend auf die richtige entscheidende Stelle, nämlich den Leistungs(Kosten-)träger. Denn ein Gutachter kann keine Entscheidung treffen, sondern nur empfehlend Stellung nehmen.

    Das gilt für alle Menschen mit und ohne Behinderung. Soziale Ungleichheit, Armut/Reichtum ist sicherlich ein großes Thema in unserer Gesellschaft, aber es ist nicht behinderungsspezifisch. Das Reha-System wurde für behinderungsspezifische Bedarfe geschaffen.

    Hallo,
    danke für den Literaturtipp, das werde ich mir anschauen.


    Da Sie sich mit § 2 SGB IX befasst haben, wissen Sie, dass dort der Begriff "seelische Behinderung" nicht auftaucht. Wohl ist die Rede von seelischen ... Beeinträchtigungen, was wiederum damit zu tun hat, dass sich die Rehabilitation mit Krankheitsfolgen beschäftigt. Und seelische Störungen scheint es zu geben, jedenfalls gibt es in der ICD, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten ein Kapitel 5: Psychische und Verhaltensstörung. Die Psyche nun ist altgriechisch und heißt ins Deutsche übersetzt: Seele. Psychiater:innen sind also Seelenärzt:innen


    Heißt also: zum Personenkreis nach SGB IX gehört, wer eine (diagnostizierte) psychische Störung "hat" (lebt, erduldet, ...) und als Ergebnis der Wechselwirkung der Umwelt mit dieser Störung am gesellschaftlichen Leben nicht teilhaben kann. Der Fokus des SGB IX liegt also nicht auf der seelischen Störung, sondern auf der Umwelt. Das halte ich für einen ziemlichen Fortschritt, ganz in dem von Ihnen intendierten Sinn (so ich ihn richtig verstanden habe).

    Die Gewährung eines persönlichen Budgets ohne Zielvereinbarung nach dem Gesetz und der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist nicht möglich. Was immer in dem Gutachten des Gesundheitsamtes stehen mag, es kann Aussagen zu den medizinischen Sachverhalten treffen; die Feststellung von Art und Umfang der erforderlichen Hilfen ist Sache der Sachbearbeitung/Fallmanagement (je nachdem, wie dies bei ihnen heißt). Gut, dass sie einen Vorschuss beantragt haben!

    Hallo "Michael",


    Sie schreiben: "Ich arbeite bei einem Kostenträger im Bereich der Bedarfsermittlung, wir ermitteln Bedarfe anhand von Teilhabebeeinträchtigungen und nicht anhand von Diagnosen", soweit, so gut. Aber wie Herr Welti betont: Ihre Aufgabe ist es, alle potenziellen Bedarfe nach allen Leistungsgruppen zu erkennen und die jeweiligen Verfahren in Gang zu setzen. Dazu brauchen Sie eben auch Erkenntnisse zu Schädigungen körperlicher Funktionen/Strukturen: wie könnten Sie sonst beurteilen, ob bspw. auch medizinische Reha-Leistungen von Nöten sind?
    Beeinträchtigungen gesellschaftlicher Teilhabe können viele Gründe haben: Alter, Geschlecht, Einkommen bzw. Vermögen, Herkunft, ...... und eben auch: das Ergebnis der Wechselwirkung von gesundheitlichen Schädigungen und Kontextfaktoren auf die Teilhabe sein, die das Reha-System auszugleichen will. Ohne Medizin geht es also nicht, und gerne nehmen wir doch auch Befunde von Hausärzten, die in ICF-Sprache Aussagen zu funktionellen Schädigungen/Beeinträchtigungen haben.
    Vielleicht liegt es aber auch am Begriff: Bedarf. Bedarf ist nicht Leistung. Bedarf sind die Hilfen, die jemand braucht, um seine Teilhabeziele zu erreichen, weil sein Körper, Geist, Seele, Sinne, ... im Zusammenhang mit einer gesundheitlichen Störung nicht das tun, was Körper, Geist, Seele, Sinne, ... normalerweise bei anderen Menschen tun. Wer die Hilfe erbringt, und schließlich, wer sie zahlt, ist keine Frage der Bedarfsermittlung, sondern der Feststellung der jeweiligen Leistungen.

    Hallo Frau Liebl,
    da bin ich ganz Ihrer Meinung.Bin darüber hinaus jedoch auch der Auffassung, dass ein einheitliches, ICF – basiertes Vorgehen nicht nur eine fachliche Forderung, sondern auch eine gesetzliche Verpflichtung der Rehabilitationsträger ist. Die Beharrungskräfte von Systemen sind, wie wir wissen, enorm. Wir dürfen daher gespannt sein, ob eine Änderung (Verbesserung) der Praxis aus Einsicht erfolgt oder eine Folge der Sanktionen (Erstattungsansprüche anderer Rehabilitationsträger § 16 Abs. 2 SGB IX;Selbstbeschaffte Leistungen § 18 SGB IX) sein wird, die sich der Gesetzgeber ausgedacht hat. Dass sich Änderungen mit der Zeit einstellen werden, davon bin ich allerdings überzeugt.

    Eine vergleichbare besondere Rolle Wie die Unfallversicherungsträger nehmen die Träger der Eingliederungshilfe ein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine verbesserte systematische Zusammenarbeit der anderen Rehabilitationsträgern mit den Trägern der Einführungshilfe für beide Seiten, insbesondere jedoch die Leistungsberechtigten beziehungsweise die Versicherten außerordentlich nutzbringend wäre. Leider sind mir solche Formen systematischer Kooperation zwischen den Träger der Eingliederungshilfe und im übrigen Rehabilitationsträgern bisher nicht bekannt geworden.

    Ich stimme Ihrer Zustandsbeschreibung, „Sonnenschein“ zu. Ich denke,so ist das.
    Aber so muss es nicht bleiben. Der Gesetzgeber ist in seinen diesbezüglichen Aussagen sehr klar: Bedarf ist umfassend über alle Leistungsgruppen zu ermitteln. Herr Welti hat das auf den Punkt gebracht.
    Was jetzt fehlt, ist nur noch eine Praxis, die dies will und kann.

    Die Bedarfsermittlung ist Aufgabe der jeweiligen Rehabilitationsträger.
    In der Eingliederungshilfe haben sich hierzu in der Vergangenheit – idealtypisch – zwei Varianten herausgebildet: in der einen Variante erfolgt die Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs durch Mitarbeitende der Leistungserbringer, welche dann durch den Leistungsträger auf Plausibilität hin überprüft wird. Diese Überprüfung erfolgt regional äußerst heterogen über Verwaltungs- oder sozialpädagogische Fachkräfte. Diese Variante hat zur Folge, dass sich die Leistungserbringer dem Verdacht einer selbst beschafften Leistung aussetzen, während andererseits die Leistungsträger gefährdet sind, die eigene fachliche Verantwortung und ihre Gewährleistungsverpflichtung gegenüber den leistungsberechtigten Personen (Die Rehabilitationsträger verwenden systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel und gewährleisten eine individuelle und funktionsbezogene Bedarfsermittlung (§ 13 SGB IX)) zu vernachlässigen.
    In der anderen Variante sind die Leistungsträger bestrebt, dem gesetzlichen Auftrag einer individuellen und funktionsbezogenen Bedarfsermittlung selbst nachzukommen. Hierzu wurden schon in der Vergangenheit nicht unerhebliche personelle Ressourcen aufgewandt, indem insbesondere sozialpädagogische Fachkräfte eingesetzt werden. Diese haben – bei allen Unterschieden im Detail – in der groben Linie die Aufgabe, die jeweiligen Bedarfsermittlungsinstrumente anzuwenden und den regional unterschiedlich verstandenen Bedarf zu ermitteln, während die Entscheidung über die bedarfsdeckenden Leistungen bei den Verwaltungsfachkräften liegt. Wen die sozialpädagogischen Fachkräfte im konkreten Einzelfall beteiligen, stellt sich gänzlich unterschiedlich dar: durchgängig wird die leistungsberechtigte Person sowie eine ihr vertraute Personen beteiligt. Ob darüber hinaus auch Mitarbeitende der Leistungserbringer oder andere Perspektiven eingebunden werden, scheint sehr uneinheitlich.


    Zu Bedarfsermittlung in Anwendung des bio – psycho – sozialen – Modells der ICF gehört auch die Klärung medizinischer Sachverhalte, konkret die Ermittlung und Beurteilung des Ausmaßes der Schädigung von Körperfunktionen. Diese Klärung erfolgt nach dem wissenschaftlichen Verständnis der ICF und der Auffassung des Gesetzgebers durch die Anwendung entsprechend gesicherter Tests. D. h., es sind entsprechende medizinische Verfahren und gegebenenfalls psychologische Testungen erforderlich. Demnach gehören im diagnostischen Bereich medizinische Berufsgruppen in der Bedarfsermittlung zu den Akteuren, die erforderlich wären. Dies scheint jedoch häufig noch nicht der Fall zu sein.

    Die Frage der Unterstützung eines frühzeitigen und niedrigschwelligen Zugangs zu Rehabilitations- und Teilhabeleistungen adressiert die Prozesse und Strukturen in den Organisationen der Rehabilitationsträger. Der Gesetzgeber belässt es in seinen Vorgaben nicht bei der Bereitstellung und Vermittlung von geeigneten barrierefreien Informationsangeboten (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGB IX), sondern fordert darüber hinaus die Benennung von Ansprechstellen, die diese Informationsangebote auch proaktiv an (potentielle) Leistungsberechtigte, Arbeitgeber und andere Rehabilitationsträger vermitteln.
    Nun wird man annehmen dürfen, dass die Benennung von Ansprechstellen entsprechende Organisationseinheiten, auf die sich die Benennung bezieht, voraussetzt. Es dürfte nicht damit getan sein, die Postanschrift der Behörde zu veröffentlichen und diese als Ansprechstelle zu bezeichnen. Dass genau dies jedoch eine häufige Praxis ist, zeigt eindrucksvoll eine kurze Recherche auf der von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) betriebenen Homepage: --> http://www.ansprechstellen.de
    Nimmt man die dortigen Veröffentlichungen als Kriterium, kann in vielen Fällen nur ein Vollzugsdefizit festgestellt werden. Wie es in der eigenen Region oder im eigenen Bundesland aussieht, mag jede:r über die genannte Homepage überprüfen.
    Wie kann ein frühzeitiger und niedrigschwelliger Zugang zur Rehabilitations- und Teilhabeleistungen gelingen? Indem die Träger der Rehabilitation, nicht zuletzt die Träger der Eingliederungshilfe sich die vom Gesetzgeber übertragenen Aufgaben zu eigen machen und die eigene Organisation weiterentwickeln. Ein Aspekt dessen könnte der Aufbau einer gesonderten Organisationseinheit sein, welche proaktiv nicht nur Informationsmaterialien verteilt, sondern auch bei Ratsuchenden auf gegebenenfalls erforderliche Antragstellungen hinwirkt und hierzu mit den entsprechenden Stellen anderer Träger zusammenarbeitet (§ 15 Abs. 3 SGB I).