Beiträge von Michael Sperling

    Die Einführung der ICF (2001 durch die WHO, 2005 befördert durch die deutschsprachige Fassung von DIMDI) war auf der medizinischen Seite zunächst von der Erarbeitung von core sets geprägt, die sich auf die Auswahl passender ICF-Kategorien zu bestimmten einzelnen medizinischen Diagnosen bezog.


    Bereits 2004 wurden vom GBA die "Reha-Richtlinien" (Muster 60 und 61) für die niedergelassenen Kassenärzte als neues Instrument zur Beantragung (Verordnung) von medizinischen Reha-Maßnahmen zur Lasten der GKV eingeführt. Leider wurde dieses Verfahren nicht durch entsprechende Regelungen für die dokumentarische Durchführung von med. Rehamaßnahmen auch für Rehe-Kliniken eingeführt. Die Kliniken bekamen also ICF-orientierte Aufnahme-Unterlagen, mussten diese aber nicht entsprechend umsetzen oder gar im Entlass-Bericht beantworten. Es gab keine passgenauen Antworten für die "Verordner". Das dürfte die dann nach dem Sinn des Ganzen zu fragen veranlasst haben.


    Die gesetzlichen Rentenversicherungen gingen diesen Weg für ihre Reha-Maßnahmen nicht mit. Die Bundesanstalt für Arbeit (wie sie damals noch hieß) ließ sich auf das Thema ICF überhaupt nicht ein (von wenig durchschlagskräftiger Mitarbeit in Gremien durch Mitglieder des Ärztlichen Dienstes der BA abgesehen).


    Einige Leistungserbringer der beruflichen Rehabilitation (BAG BBW) ging den Weg der core sets nicht mit, sondern entwickelte nach dem Beispiel der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses Luzern (Dr. Rentsch) "ICF-Kurzlisten". Später erfolgte die enge Weiterentwicklung mit ICF-Nutzungsinteressierten aus BTZ, BFW, RPK und Phase II-Einrichtungen. Seit 2015 gibt es eine Empfehlung der BAG BBW zu einer ICF-Kurzliste (Basisliste mit Ergänzungsmöglichkeiten) für ihre 52 Mitglieder. Diese Kurzlisten fußen auf der Basis ganz konkreter ICF-Kategorien (codes, items).


    Überwiegend erfolgt bisher die Nutzung der ICF in Deutschland "nur" auf der Basis des bio-psycho-sozialen Modells der WHO, das mit der ICF operationalisiert werden kann (und m. E. auch sollte). § 13 SGB IX (BTHG) spricht lediglich von "funktionsbezogen" (entsprechend dem § 10 SGB IX von 2001). Ein Riesenfortschritt im Sinne der ICF ist die Aufnahme der "9 Lebensbereiche" aus der Komponente "Aktivität und Partizipation" im § 118 BTHG. Jedoch wird weiterhin von Codierung nicht gesprochen. Das ist verständlich, weil die ICF auch nach 20 Jahren keine breite Implementierungs-Koordinierung in Deutschland erfahren hat, also sehr viel Unsicherheit in der Anwendung besteht. Es ist aber meinerseits kaum möglich, diese 9 Lebensbereiche im Sinne der Bedarfsfeststellung zu beurteilen, wenn man die eigentlichen Inhalte dieser Lebensbereiche, die die ICF erst in den Kategorien (codes, items) darstellt, nicht kennt. Als mittelfristigen Schritt hin zur Kodierung (als Voraussetzung für eine bundesweit einheitliche Anwendung) sollte zumindest die Kenntnis der ICF-Kategorien von den Anwendern des § 118 BTHG (ausreichend hier zunächst die ICF-Kurzversion) gefordert werden. Abgesehen von je am Ende eines Blockes der Klassifikation stehenden allgemeinen codes ("anders oder nicht näher bezeichnet") finden sich lediglich 81 konkrete Kategorien in den 9 Lebensbereichen ( Kap. 1 = 17 / Kap. 2 = 4 / Kap. 3 = 11 / Kap. 4 = 14) / Kap. 5 = 7 / Kap. 6 = 6 / Kap. 7 = 7 / Kap. 8 = 12 / Kap. 9 = 5 ). Das ist eine überschaubare Menge, die den Ausführenden nach § 118 m. E. bekannt sein sollten.


    Die WHO entwickelt derzeit eine neue Klassifikation (ICHI), die ziemlich passgenau zur ICF einen Katalog therapeutischer Interventionen darstellt. Man kann nur hoffen, dass ICF und ICHI mittel- und langfristig der Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung zu einheitlichem Vorgehen verhelfen.