Beiträge von Dörte Busch

    Die jüngste Entscheidung ist vom OVG Lüneburg, 22. Juni 2021 - 2 LA 461/20 -, juris, die aber keine Wende in der Rechtsprechung bringt (siehe oben). M.E. werden in der Begründung die Entscheidungen, die vor dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention ergangen sind, wenig bzw. gar nicht in dem stattgefundenen Paradigmenwechsel reflektiert und auch der gewandelte Begriff der - drohenden - Behinderung (§ 2 SGB IX) wird nicht umfänglich diskutiert. Zudem ist mE zu berücksichtigen, dass späterhin im Arbeitsleben Anpassungen des Arbeitsplatzes an die Beeinträchtigung möglich sind und die jeweilige Person darauf ggf sogar einen Anspruch gegen den Arbeitgeber oder die zuständigen Reha-Träger haben kann. Dazu dienen insbesondere die Leistungen zu Teilhabe am Arbeitsleben. Für Menschen mit Schwerbehinderungen gelten noch einmal differenziertere Regelungen. Dh ein - erfolgeicher - Ausgleich der Beeinträchtigung im Studium könnte späterhin im Arbeitsleben durchaus auch ausgeglichen werden. Diese Perspektive fehlt aus meiner Sicht vollständig in der Diskussion und der Judikatur.


    Einen in seiner Anwendungsbreite zu diskutierenden Ansatz, in den meine obigen Ausführungen eingebracht werden könnten, bietet dagegen das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 24. Februar 2021 – 6 C 1/20 –, juris, auch wenn es die hier interessierende Frage gerade nicht beanwortet hat.

    Das Land Berlin geht einen vom bundesrechtlich vorgegebenen abweichenden Weg. Das Berliner Hochschulgesetz hat die zu verwirklichende Diversität an Hochschulen im vergangenen Jahr durch das Hochschulgesetz deutlich gestärkt. Auch vorher war die Verpflichtung des hier im Forum angesprochenen Personenkreises ausdrücklich verankert. Ich zitiere hier einmal aus dem Ratgeber des studierendenWERKs Berlin, Barrierefrei Studieren in Berlin, S. 7 (https://www.stw.berlin/assets/…refrei_Studieren_2021.pdf)


    "In Berlin wurde ein anderer Weg zur individuellen Unterstützung Studierender mit Behinderung und chronischer Erkrankung eingeschlagen. ... Die Aufgabe, Inklusionsleistungen an Studierende zu vergeben, wurde der Beratung Barrierefrei Studieren des studierendenWERKs BERLIN übertragen. Richtlinien, die diese Vergabe von Leistungen zur Umsetzung einer inklusiven Hochschule konkretisieren, wurden von den Hochschulen, der Berliner Senatskanzlei für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle entwickelt. Diese werden regelmäßig an Veränderungen in der Hochschullandschaft angepasst. Das Berliner Modell macht Hilfen aus einer Hand möglich. Die Vergabe an
    Studienbewerber*innen und Studierende erfolgt unter Berücksichtigung des beeinträchtigungsbedingten Bedarfs. Auch Promotionsstudierende haben in der Regel Anspruch auf Leistungen der Integrationshilfe, sofern sie nicht für die Promotion an der Hochschule angestellt sind. In
    solch einem Fall ist das Integrationsamt zuständig."


    Auf S. 8 der Broschüre sind die einzelnen Inklusionsleistungen aufgezählt: Studienassistenz / Kommunikationshilfen / Technische Hilfsmittel / Büchergeld .


    Aus meiner Erfahrung als Beauftragte für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen an der HWR Berlin ist dies ein gute Lösung mit einem für die Studierenden transparenten und gut zugänglichen Verwaltungsverfahren, das unkompliziert vom studierendenWERK im Einzelfall abgewickelt wird.

    Die Integrationsämter und Integrationsfachdienste sind „theoretisch“ ein Erfolgsfaktor im Einsatz von assistiven Technologien im betrieblichen Einsatz, insbesondere mit ihrer Beratungskompetenz, und sollten es praktisch - durch eine Spezialisierung auf ( digitale), assistive Technologien – auch sein. Daher hier die Frage nach den praktischen Erfahrungen.


    „Hilfsmittel“ darf hier nicht im engen Sinne des SGB IX (§ 47) begriffen werden, sondern soll sämtliche assistiven Technologien umfassen. Die Kategorie des Hilfemittels ist in ihrem jetzigen rechtlichen Zuschnitt des SGB IX nicht mehr besonders glücklich und passend. Jüngst hat das LSG Baden-Württemberg, 09.09.2020 – L 2 R 2454/19 – ein „Hilfsmittel“ als sonstige Hilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 49 Abs. 3 Nr. 7 SGB IX) zugesprochen, für das konkret die Rentenversicherung zuständig war. Es handelt sich um einen täglich mehrfach höhenverstellbaren Schreibtisch für einen Fertigungsleiter in der Produktion mit einem Rückenleiden. Eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 47 SGB IX) war es deshalb nicht, weil dieser Schreibtisch nicht speziell für Menschen mit Behinderungen konzipiert ist und somit einen Gebrauchsgegenstand des alltäglichen Lebens darstellt. Das ist ein eher seltener Fall von einem Hilfsmittel im Arbeitsleben. Im Zentrum stehen für die assistiven Technologien die technischen Arbeitshilfen. Zu beachten ist zudem, dass ein einfach ergonomischer Schreibtisch inzwischen im Rahmen des Arbeitsschutzes zu leisten ist.


    Im Rahmen der begleitenden Hilfen im Arbeitsleben ist das Integrationsamt insbesondere zuständig für (Geld)Leistungen an schwerbehinderte Menschen für technische Arbeitshilfen und an Arbeitgeber zur behinderungsgerechten Einrichtung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für schwerbehinderte Menschen (§ 185 Abs. 3 Nr. 1a, 2a SGB IX). Ohne die Unterstützung der Integrationsämter und der Integrationsfachdienste wird ein breiter Einsatz von assistiven Technologien in der Praxis nicht gelingen. Dazu gehört auch, dass diese Technologien durchaus kostenintensiv und mithin zB für den Arbeitgeber zum Einsatz für schwerbehinderte Menschen unverhältnismäßig sein können (§ 164 Abs. 4 SGB IX). Auch in diesem Kontext hat das Integrationsamt eine Schlüsselfunktion, weil es Kosten übernehmen kann (§ 185 SGB IX).

    Der Einsatz von Assistenzsystemen sollte schon eine – überzeugte – Win-Win-Situation sein. Ein gutes und schönes Beispiel zeigt der Einsatz eines Roboters bei Ford für einen Menschen mit Schulterproblemen (https://youtu.be/JiVpzIGR-eQ). Natürlich kommen hier viele, wenn man so will Erfolgsfaktoren zusammen, die auch eine Projektförderung einschließt. Mehrere Faktoren muss man einfach sehen:


    der Einsatz von-digitalen-Assistenzsystemen ist kein Automatismus in der Praxis und momentan sind es weniger rechtliche Barrieren, sondern die Bekanntheit, Einsatzfelder, der Nutzen solcher Systeme und natürlich auch die Kosten. Das trifft nicht ausschließlich im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderungen zu, sondern auf die ganze Arbeitswelt, voll allem bei mittleren und kleinen Unternehmen. Alle Akteure sind gefragt, wie das hier im Forum deutlich wird. Deshalb auch dieses FMA – Format.


    Die meisten Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben und betreffen Beschäftigte während ihres Erwerbslebens. Um sie weiterhin beschäftigen zu können, können neue, digitale Assistenzsysteme eine gute Lösung sein, die für den Arbeitgeber ebenso attraktiv sein können. Sei es, weil es sich um gute Fachkräfte handelt und selbst, wenn er seine gesetzlichen Verpflichtungen unproblematisch / zügig / aus seiner Sicht ohne hohen - personellen - Aufwand erfüllen kann, ist es ja auch bereits ein Förderfaktor. Assistenzsysteme bieten bereits die Chance, in die Prävention (§ 167 SGB IX) und das betriebliche Eingliederungsmanagement eingebunden zu werden.