Beiträge von Prof. Dr. Jörg Ennuschat und Jana Hövelmann

    Nehmen Studierende die durch die Hochschule geschaffene Möglichkeit eines Teilzeitstudiums (§ 62a I HG NRW: Die Hochschule soll das Lehrangebot so organisieren, dass das Studium auch als Teilzeitstudium erfolgen kann) in Anspruch, handelt es sich dabei nicht um ein nach dem BAföG förderungsfähiges Studium. Nach § 2 V 1 HS 2 BAföG wird Ausbildungsförderung nur geleistet, wenn die Ausbildung die Arbeitskraft des Auszubildenden im Allgemeinen voll in Anspruch nimmt. Diesen Anforderungen genügt ein Teilzeitstudium nicht (LSG Hessen, Beschluss vom 15.12.2020 – L 9 AS 535/20 B ER, juris Rn. 25; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.08.2014 – L 18 AS 1672/13, juris Rn. 19; LSG Thüringen, Beschluss vom 15.01.2007 – L 7 AS 1130/06 ER, juris Rn. 23 ff.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 22.12.2003 – 5 B 51/03, juris Rn. 3). Bei § 2 V BAföG greift eine „objektive Betrachtung“ (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.08.2014 – L 18 AS 1672/13; siehe auch Wortlaut des § 2 V 1 HS 2 BAföG „im Allgemeinen“), d.h. entscheidend ist allein, ob das Studium als solches in Vollzeitform durchgeführt wird (BVerwG, Urteil vom 14.12.1994 - 11 C 28/93, juris Rn. 10; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.08.2014 - L 18 AS 1672/13, juris Rn. 19; a.A. andeutend 31. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.09.2015 - L 31 AS 2074/15 B ER, juris Rn. 23 f.).


    Es sei aber in dieser Konstellation noch auf Folgendes hingewiesen: Die Rspr. nimmt überwiegend an, dass bei einem Teilzeitstudium Leistungen nach dem SGB II nicht nach § 7 V 1 SGB II ausgeschlossen sind (LSG Hessen, Beschluss vom 15.12.2020 – L 9 AS 535/20 B ER, juris Rn. 21 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.08.2014 – L 18 AS 1672/13, juris Rn. 16 ff; LSG Thüringen, Beschluss vom 15.01.2007 – L 7 AS 1130/06 ER, juris Rn. 22 ff.; a.A. andeutend 31. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.09.2015 - L 31 AS 2074/15 B ER, juris Rn. 23 f.).


    Von Wiss. Mit. Jana Hövelmann

    Vielen Dank für Ihre Fragen! Angemessene Vorkehrungen werden dann relevant, wenn Studierende mit Behinderungen daran gehindert werden, ihr Recht auf Hochschulbildung gleichberechtigt mit nicht-behinderten Studierenden wahrzunehmen. Dies ist der Fall, wenn die Hochschulumwelt nicht barrierefrei ausgestaltet ist. Angemessene Vorkehrungen sind folglich dann nicht mehr erforderlich, wenn der Zustand der Barrierefreiheit erfüllt ist. Ist dieser Zustand noch nicht erreicht, sind angemessene Vorkehrungen zu gewähren, um die gleichberechtigte Teilhabe an der Hochschulbildung sicherzustellen.


    Eine Legaldefinition der angemessenen Vorkehrungen findet sich in Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK. Danach sind angemessene Vorkehrungen „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte (hier: Recht auf Hochschulbildung, Art. 24 V UN-BRK) und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können.“ Dieses Begriffsverständnis hat ausdrücklich auch Eingang in § 3 BGG NRW gefunden. Erfasst sind also geeignete Maßnahmen, um in einem konkreten Einzelfall, die für eine*n Studierende*n mit Behinderungen bestehenden Barrieren zu überwinden. Das kann z.B. eine Rampe sein, um überhaupt Zugang zu einem Hörsaal zu bekommen. Dies kann aber beispielsweise auch eine barrierefreie Aufbereitung eines Vorlesungsskriptes sein.


    Studierende mit Behinderungen haben einen Anspruch auf die Gewährung einer solchen angemessenen Vorkehrung, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage (Art. 24 V iVm Art. 5 II iVm Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK; Art. 14 EMRK iVm Art. 2 I ZP-EMRK; Art. 3 III 2 GG; § 2 I, II iVm § 3 BGG NRW) erfüllt sind. Es steht also nicht im Ermessen der Hochschule, ob sie eine angemessene Vorkehrung gewährt. Ein Ermessen der Hochschule besteht nur im Hinblick auf das „Wie“ der Vorkehrung, sodass kein Anspruch auf eine ganz bestimmte Vorkehrung besteht.


    Ein Anspruch gegen die Hochschule auf eine an sich angezeigte Vorkehrung besteht aber, wie oben aufgezeigt, dann nicht, wenn der Versagungsgrund der „unverhältnismäßigen und unbilligen Belastung“ eingreift. Auf diesen Versagungsgrund darf sich die Hochschule aber nicht vorschnell berufen. Vielmehr hat sie darzulegen, wie sie die begrenzten Ressourcen insgesamt einsetzen will, um das Recht auf Hochschulbildung auch der im konkreten Einzelfall betroffenen Person sicherzustellen (Dazu Ennuschat, Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderungen – Prüfungsrechtliche Bausteine einer inklusiven Hochschule, S. 64. https://www.studentenwerke.de/…eiche-_ennuschat-2019.pdf).


    Von Wiss. Mit. Jana Hövelmann und Professor Dr. Jörg Ennuschat

    Vielen Dank für Ihre Fragen! Art. 24 I, V UN-BRK verlangt die Herstellung einer inklusiven Hochschule, d.h. z.B. für den von Ihnen angesprochenen Bereich, dass Studierenden mit Behinderungen der gleichberechtigte Zugang zu Vorlesungen zu gewährleisten ist. Es sind also sämtliche Barrieren, welche die Möglichkeit einer aktiven Teilnahme an der Vorlesung verhindern, abzubauen. Auch die oben aufgeführte Definition von Barrierefreiheit in § 4 I BGG NRW zeigt, dass sich diese nicht allein auf bauliche Barrieren, wie sie sich beispielsweise in Form von Treppen für Rollstuhlfahrer*innen darstellen, beschränkt, sondern jede Art von Barriere für Studierende mit Behinderungen, unabhängig von der Art der gesundheitlichen Beeinträchtigung, erfasst.


    Des Weiteren ist zwischen den Instrumenten „Barrierefreiheit“ (= Zugänglichkeit iSd UN-BRK) und „angemessene Vorkehrungen“, die beide auf die Herstellung einer inklusiven Hochschulumwelt abzielen, zu unterscheiden. Barrierefreiheit stellt sich anders als die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen als abstrakt-generelle Verpflichtung der Hochschulen dar. Angemessene Vorkehrungen werden u.a., wie von Ihnen bereits angedeutet, dann relevant, wenn es trotz einer an sich schon barrierefreien Gestaltung des Hörsaals dazu kommt, dass diese in einem konkreten Einzelfall für eine*n bestimmte*n Studierende*n mit Behinderungen nicht ausreichend ist. Ist dies der Fall, besteht die Pflicht der Hochschule zur Gewährung einer angemessenen Vorkehrung (Art. 24 V iVm Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK; Art. 14 EMRK iVm Art. 2 I ZP-EMRK; Art. 3 III 2 GG, § 2 I, II iVm § 3 BGG NRW). Bei der Frage, welche Vorkehrung „notwendig und geeignet“ (Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK, § 3 BGG NRW) ist, sollte die*der Betroffene (siehe dazu Committee on the Rights of Persons with Disabilities, General comment No. 6 (2018) on equalitiy and non-discrimination, CRPD/C/GC/6, vom 26.04.2018, Rn. 24 b) und der*die Beauftragte für Studierende mit Behinderungen (idS Art. 4 IV UN-BRK; vgl. z.B. auch § 88 III 1 HG Hamburg; § 7 I 2 HG Hessen; § 62b II 2 HG NRW; § 7 II 2 HG Saarland) einbezogen werden. Allerdings besteht kein Anspruch gegen die Hochschule auf Gewährung der auf diese Weise ermittelten Vorkehrung, wenn der Versagungsgrund der „unverhältnismäßigen und unbilligen Belastung“ (Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK, § 3 BGG NRW) eingreift. Kurz zusammengefasst bedeutet dies: Erst mal - im Rahmen des Möglichen - Barrierefreiheit für möglichst viele herstellen, dann die "Einzelschicksale" betrachten und angemessene Vorkehrungen treffen.


    Von Wiss. Mit. Jana Hövelmann und Professor Dr. Jörg Ennuschat

    Die Pflicht der staatlichen Hochschulen zur digitalen und räumlichen Barrierefreiheit findet ihre rechtliche Grundlage insbesondere in der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 9 UN-BRK), im Grundgesetz (Art. 3 III 2 GG) und in dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (Bund als Träger der Hochschule) bzw. in den Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder (Land als Träger der Hochschule). Auch die Hochschulgesetze der Länder verlangen teils selbst ausdrücklich die barrierefreie Ausgestaltung ihrer Angebote (z.B. § 5b V 3 HG Berlin; § 4 VI 2 HG Bremen; § 2 IV HG Rheinland-Pfalz; § 5 VII 3 Nr. 1 HG Thüringen).


    Nach Art. 9 I UN-BRK trifft die Hochschulen die Pflicht, bestehende Barrieren festzustellen und zu beseitigen. Sie hat also zunächst die Barrieren, die beispielsweise in räumlicher und digitaler Hinsicht bestehen, zu ermitteln. Zugänglichkeit ist von den Hochschulen allerdings gem. Art. 4 II UN-BRK erst „nach und nach“ herzustellen. Führt jedoch die fehlende Zugänglichkeit des Angebotes der Hochschule dazu, dass dieses von einem*r Studierenden mit Behinderungen nicht wahrgenommen werden kann, entsteht die sofort umzusetzende Pflicht der Hochschule zur Gewährung von angemessenen Vorkehrungen. Wird diese mangelnde Zugänglichkeit nicht durch eine angemessene Vorkehrung kompensiert, liegt eine verbotene Diskriminierung vor (Art. 24 V iVm Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK).



    Barrierefreiheit wird von § 4 I BGG NRW, der an dieser Stelle stellvertretend für die ähnlichen Formulierungen in den übrigen Landes-BGG bzw. im Bundes-BGG herangezogen sei, definiert als „die Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der gestalteten Lebensbereiche (hier: Hochschule) für alle Menschen. Die Auffindbarkeit, der Zugang und die Nutzung müssen für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe möglich sein. Hierbei ist die Nutzung persönlicher Hilfsmittel zulässig.“



    Im Hinblick auf ihre digitalen Angebote sind beispielsweise die nordrhein-westfälischen Hochschulen als Träger öffentlicher Belange iSd § 2 Inklusionsgrundsätzegesetz nach § 10 I BGG NRW dazu verpflichtet „die von ihnen zur Verfügung gestellten Programmoberflächen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung sowie ihre Online-Auftritte und Angebote technisch“ so zu gestalten, dass sie von Menschen mit Behinderungen genutzt werden können. Dies umfasst sämtliche von der Hochschule zur Verfügung gestellten Angebote der Informationstechnik, sodass sowohl die Websites der Hochschule, Fakultäten und Lehrstühle als auch die Plattformen, auf denen das Studienmaterial hochgeladen wird, erfasst werden. Die Prinzipien und anzuwenden Standards bei der Gestaltung der Programmoberflächen ergeben sich aus der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung NRW. Darüber hinaus ist das Hochschulgebäude selbst nach Maßgabe der geltenden Rechtsvorschriften (insbesondere § 49 BauO NRW) barrierefrei zu gestalten (§ 7 BGG NRW).



    Barrierefreiheit lässt sich insbesondere durch ein universelles Design (Art. 2 UAbs. 5 UN-BRK) herstellen und durch die Beauftragten für Studierende mit Behinderungen, die 14 der 16 Bundesländer in ihren Hochschulgesetzen verankert haben, fördern.


    Von Wiss. Mit. Jana Hövelmann