Von der Förderschule in die Werkstatt, statt offener Lebensplanung auch im Beruf? Was braucht es, um ein reines Maßnahmedenken abzulösen?

  • Liebe Lesende,


    aus meiner Sicht braucht es für jeden Schüler und jede Schülerin bereits während der Schulzeit die Möglichkeit sich mit einer offenen Berufswegeplanung auseinanderzusetzen. Davon sind wir in Deutschland leider noch weit entfernt. Unterstützt werden sollte dieser Prozess von ressourcenorientiert arbeitenden Fachkräften, die mit den Schüler*innen mit Materialien aus der persönlichen Zukunftsplanung arbeiten. Und die vor allem die richtige Haltung mitbringen, dass nämlich Inklusion ein Menschenrecht ist. Jede*r Schüler*in sollte personenzentriert die Unterstützung bekommen, die er bzw. sie benötigt. Dafür müssten natürlich auch die entsprechenden Hilfsmittel bereit gestellt werden, die z. B. eine Person mit körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen an einem betrieblichen Praktikumsplatz benötigt. Gut begleitete Praktika in Betrieben sind die Voraussetzung für Schüler*innen, um sich ein Bild von betrieblichen Realitäten machen zu können. Es bietet sich so auch die Chance für einen Arbeitgeber und die dort arbeitenden Mitarbeitenden in Kontakt zu kommen. Gemeinsam und mit Unterstützung von Fachkräften, die mit ausreichend Zeit auszustatten sind, geht es darum, Erfahrungen zu sammeln. Dafür ist ein förderlicher Rahmen nötig, der die Schüler*innen ermuntert, ihnen ihre Stärken aufzeigt und nicht permanent ihre sog. Defizite in den Vordergrund stellt. Nach der Schule sollten Schüler*innen wählen können zwischen der Eingliederung in das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich einer WfbM oder einer betrieblichen Maßnahme. In Vorarlberg (Österreich) ist das heute schon gelebte Praxis.

    Insgesamt wäre es sehr hilfreich, wenn wir uns von dem Maßnahmendenken lösen könnten, weil dahinter immer ein Schubladen-Denken steckt. Schubladen bringen uns leider in Sachen Inklusion wenig weiter. Es stellt sich eher die Frage: Mit welchen Hilfen/Rahmenbedingungen kann die Person ihr Potential entfalten und ausbauen, sodass daraus hoffentlich ein passgenauer Arbeitsplatz entstehen kann.


    Wir haben noch viel zu tun. Das ist klar. Doch wir sollten nicht müde werden uns für inklusive Bedingungen einzusetzen.


    Herzliche Grüße von Andrea Seeger

  • "offenen Berufswegeplanung " - ja, offen ist da meist gar nichts. Wenn man alle Wege versperrt, bleibt eben meist nur einer übrig. Ich frage mich: Wie viele Jahre und Jahrzehnte wollen wir eigentlich noch nach Voralberg schauen? (so wie wir seit Jahrzehnten im schulischen Bereich nach Südtirol schauen und dort hin pilgern, ohne hier etwas zu ändern)

  • So makaber es vielleicht auch klingen mag, durch den heute schon zunehmenden Mangel an Fachpersonal wie überhaupt Personal, wird zunehmend deutlich, dass wir nur mit gemeinsamen Konzepten die auf uns zukommenden Personalengpässe überwinden können. Heute scheinbar ausschließende Faktoren müssen überwunden werden.


    Anknüpfend an den Beitrag von Andrea Seeger ergibt sich hieraus die Chance, viel früher, sinnvollerweise schon während der Schulzeit, mit Unternehmen betriebliche Qualifizierungs- und Ausbildungswege aufzubauen und die von Andrea Seeger beschriebene Idee der inklusiven Erprobung, Qualifizierung und Ausbildung in zunehmend mehr Unternehmen zu etablieren. Gut ist, immer mehr Unternehmen wollen das auch.


    So gesehen sind die Chancen für die Etablierung inklusiver Berufswege, hier auch aus der Schule heraus, mehr als gut. Wollen wir als Gesellschaft stark bleiben, sollten wir stärken- und wachstumsorientiert handeln und die Idee der unterstützten Beschäftigung von Anfang an zu einer wesentlichen Grundlage aller Weiterentwicklungen erklären. Die hierfür erforderlichen gesetzlichen Grundlagen sind gegeben.


    Natürlich lohnt sich der Blick in andere Länder, da sie uns deutlich zeigen, dass inklusive Berufswege, hier schon aus der Schule heraus, einfach möglich sind. Und dann sollten wir uns gemeinsam trauen, inklusive Berufswege auch in Deutschland einfach möglich zu machen.

  • Ich habe immer kein gutes Gefühl, wenn immer mit dem "Fachkräftemangel" argumentiert wird. Denn das schließt viele Menschen mit Behinderung aus, die NIE eine FACHkraft sein können, aber trotzdem wertvolle und wichtige Beiträge in Unternehmen leisten könnten, wenn man sie ließe. Diese geraten damit noch mehr aus dem Focus, als sie das ohnehin schon sind.

  • Liebe Frau Ehrhardt,


    ich verstehe Ihre Bedenken. Die Frage ist ja aber, was verstehen wir unter Fachkräften?


    Beispiel:

    Die Universitätsklinikum Köln Reinigungs GmbH hat in 2012 eine Inklusionsabteilung für insbesondere Mitarbeitende aufgebaut, die aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen wiederkehrende Einsatzfelder benötigen, um ihre Fachlichkeit entwickeln zu können. Hierbei hat das Unternehmen aus seinen bestehenden Arbeits- und Teamstrukturen neue Abteilungen zusammengesetzt, die quasi mitten drin insbesondere für diese Mitarbeitende neue Aufgabenfelder bereithalten können. Da wäre beispielhaft die maschinelle Bodenreinigung von großen Räumen, Fluren, Eingängen oder die Mopp- und Tuchwäscherei, wo täglich Tausende von Boden- und Aufbautentücher fachgerecht entpackt, gewaschen und wieder verpackt werden.

    Für die Universitätsklinikum Köln Reinigungs GmbH gehören individuell ausgerichtete Qualifizierungen wie BiAP / Betriebsintegrierte Berufsbildungs- und Arbeitsplätze einer Werkstatt für behinderte Menschen oder die InbeQ / UB-Unterstützte Beschäftigung zu etablierten Einstiegswegen für neue Mitarbeitende mit Behinderung.


    Es gibt seit 2012 Mitarbeitende der Inklusionsabteilung, die ihre wiederkehrenden Arbeiten und die damit verbundene Sicherheit mit keiner anderen Arbeit tauschen möchten. Andere haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Für den Geschäftsführer der Reinigungs GmbH gehören die Mitarbeitenden der Inklusionsabteilung zu seinen wichtigsten Mitarbeitenden.


    Mit dem Aufbau der hier nur kurz skizzierten Inklusionsabteilung hat die Universitätsklinikum Köln Reinigungs GmbH eine für andere Unternehmen wichtige Blaupause entwickelt und wird von anderen Unternehmen darauf angesprochen.


    Ich sehe ähnlich wie Sie, dass sich der Aufbau eines inklusiven Arbeitsmarktes, hier vor allem auch im Sinne der unterstützten Beschäftigung, noch in seiner Anfangsphase befindet. Da es gute Beispiele gibt, die ihre Erprobungsphase schon längst hinter sich haben, sollten wir alle dafür werben, dass sie zur Blaupause für viele andere wird. Weil es gibt einen zunehmenden Fachkräftemangel.


    Am Freitag sprach ich noch mit einem Vertreter des Einzelhandels, die dringend verlässliche und fachlich gute Verräumer:innen suchen. Im Rahmen des Jobcoachings habe ich diese Arbeit selbst machen dürfen und ich kann nur sagen: Ich ziehe meinen Hut vor fachlich versierten Verräumer:innen.


    Herzliche Grüße aus Köln

    Monika Labruier